"Demokratie und Gleichstellung gehören zusammen."

Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Bautzen, Fränzi Straßberger, zur Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel der Lausitz

Fränzi Straßberger ist seit 2020 Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte der Stadt Bautzen und Sprecherin des Bündnisses der Lausitzer Gleichstellungsbeauftragten. Zuvor war sie Projektleiterin bei der Fraueninitiative Bautzen e. V. und Mitinitiatorin der Initiative „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz“. Im Gespräch mit Marius Koepchen von der Europa-Universität Flensburg blickt sie auf ihre Rolle als Gleichstellungsbeauftragte und die Bedeutung von geschlechtergerechten Perspektiven im Strukturwandel der Lausitz. 

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© Tine Jurtz 

 

Marius Koepchen: Frau Straßberger, wie kamen Sie zu Ihrem frauen- und gleichstellungspolitischen Engagement in der Lausitz?

Fränzi Straßberger: Ich bin in dieses Engagement hineingewachsen. Mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017, als wir sahen, wie der Frauenanteil auf einmal wieder zurückging, wurde es politischer. Wir wollten aktiv werden, haben das „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz” gegründet und uns oberlausitzweit vernetzt. Sich gemeinsam mit anderen für etwas einzusetzen, ist für mich ein wichtiger Anker in der Region. Man lernt tolle Menschen kennen und merkt, dass man mit seinem Anliegen nicht alleine ist. Oft übersehen wir, dass wir keine “Einzelkämpferinnen” sind. Doch die Sichtweisen von Frauen liegen selten im Zentrum der Aufmerksamkeit.  

Marius Koepchen: Und wo liegen die Verbindungen zwischen Ihrer gleichstellungspolitischen Arbeit und dem Strukturwandel der Lausitz?

Fränzi Straßberger: Ich habe mir die Rolle als Gleichstellungsbeauftragte im Strukturwandel nicht aktiv gesucht. Der Impuls kam letztendlich durch das Statuspapier “Geschlechtergerechtigkeit für die Lausitz im Wandel“, das im Rahmen eines Forschungsprojektes der Zukunftswerkstatt Lausitz entstand. Als ich 2020 in die Stadtverwaltung gewechselt bin, habe ich mir unter anderem die Fragen gestellt: Wo liegen gerade die Herausforderungen? Was steht an? In Bautzen sind die Folgen des Tagebaus bzw. auch des Kohleausstiegs nicht so mit dem bloßen Auge sichtbar wie beispielsweise in Hoyerswerda oder Spremberg. Seit 2020 arbeiten wir nun kontinuierlich zum Thema Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel und stellen immer wieder fest: Das ist eine riesige Herausforderung für eine ganze Region! Es ist nicht so einfach, die eigene Rolle darin zu finden. Aber wenn ich die Zeitung aufschlage, ist mir klar: Hier ist eine Leerstelle. In der Regel sind es gut etablierte, anerkannte Männer, die wir sehen, wenn es um den Strukturwandel geht. Gleichzeitig fehlen überproportional viele jüngere Frauen in der Region. Letztlich ist es eine Aufgabe für die gesamte Lausitz, diese auch für jüngere Menschen – vor allem auch für Frauen – attraktiv und lebenswert zu machen, sonst haben wir über kurz oder lang nicht nur ein demographisches, sondern auch ein demokratisches Problem. Und das geht Alle an. Maßnahmen im und rund um den Strukturwandel müssen das systematisch in den Blick nehmen und Perspektiven schaffen – für Jüngere, Ältere und alle Geschlechter.

Marius Koepchen: Sehr spannend, ich würde da gerne anknüpfen: Können Sie die geschlechterpolitische Dimension des Strukturwandels noch etwas ausführen? Was sehen Sie da?

 Fränzi Straßberger: Es ist kein neues, sondern genaugenommen ein Dauerthema – seit 1990. Die Region befindet sich permanent im Wandel. Viele Frauen verloren zu Beginn der 1990er Jahre ihre Arbeitsplätze, vor allem auch im technischen bzw. industriellen Bereich. Sie waren überproportional vom Stellenabbau betroffen und es hat sich kaum jemand dafür interessiert. Ich erinnere mich an meine erste Lausitz-Konferenz, in der man sich sehr um die Zukunft der heute noch im Tagebau Beschäftigten sorgte. Wir wissen, dass technische Berufe vor allem von Männern ausgeübt werden. Diese Sorge und Verantwortlichkeit um verlässliche berufliche Perspektiven wünsche ich mir auch für die sogenannten eher „weiblichen Berufe“. Eine „brüchige“ Berufsbiografie ist leider eine Lebensrealität für viele, auch sehr gut ausgebildete Frauen. Doch an dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit wird sich nur selten gestört. Deshalb ist das Thema überhaupt nicht neu. 

Mich hat es auch persönlich geprägt, wie in den 90er Jahren Menschen um mich herum scheinbar beliebig ihre Arbeit verloren oder ihr Zuhause für eine berufliche Zukunft verlassen mussten. Mitschüler*innen zogen auf einmal weg. Die Hintergründe habe ich damals als Grundschulkind natürlich noch nicht verstanden. Als ich 2002 mein Abitur machte, gab es auch noch diese Grundhaltung: Für eine echte Perspektive musst du weggehen! Danach änderte sich vieles – auch der Arbeitsmarkt. Aber dieses "Wir müssen schauen, wie es weitergeht." gehörte in meiner Lebensperspektive schon immer dazu.

Deshalb und aus vielen anderen Gründen ist Gleichstellungsarbeit heute immer noch wichtig. Unsere Verfassung gibt uns allen, nicht nur den Gleichstellungsbeauftragten, einen klaren Auftrag und dennoch müssen wir uns für unsere Arbeit immer wieder rechtfertigen. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern verkennt die Chancen, die sie bietet.

Marius Koepchen: Sehr spannend! Wir stellen uns in unserer Forschung auch die Frage nach frauenpolitischen Visionen und Zukunftsvorstellungen. Daher die konkrete Frage: Wo sehen Sie denn die Bedarfe in der Lausitz? Was müsste sich aus frauenpolitischer Sicht verändern? 

Fränzi Straßberger: Gleichstellung geht alle an – auch Männer! Wir sollten anerkennen, dass wir ein Problem haben. Die Rollenvorstellungen für alle Geschlechter sind hier oft „eher eng“, auch für Männer. Wie wird über Väter gesprochen, die mehr Zeit für Familie aufbringen wollen, vermeintlich männlichen Statussymbolen nichts abgewinnen können, länger als zwei Monate in Elternzeit gehen wollen und das Haupternährermodell für überholt halten, eventuell sogar eine Teilzeitbeschäftigung anstreben? Wir müssen leider wieder sehr viel mehr über Respekt reden. An diesen mittlerweile rauen Ton will ich mich nicht gewöhnen. Die vielen kleinen und großen alltäglichen Abwertungen mit einem „geschlechtlichen“ Bezug sind weder witzig noch tragen diese zu einer engen Verbundenheit mit der Region bei. Es braucht auch diesbezüglich einen kulturellen Wandel. Das hat jetzt noch nichts direkt mit dem Strukturwandel zu tun. Doch beim Thema Geschlechtergerechtigkeit bedingt das eine immer auch das andere, und regionale Verbundenheit entsteht auch auf der zwischenmenschlichen Ebene. Ein Mangel an Offenheit und Toleranz in einer Region führt sonst schlussendlich dazu, dass viele junge Menschen für sich dort keine Zukunft sehen.

Ein weiterer Aspekt sind die ewig kurzfristigen Projektfinanzierungen im sozialen und kulturellen Bereich. Wir beklagen die Abwanderung der gut ausgebildeten Frauen und gleichzeitig bieten wir ihnen hier keine Zukunfts- und Berufsperspektive. Wie sollen sie sich hier ein Leben, mit oder ohne Familie, aufbauen? Dabei tragen diese Fachkräfte wesentlich zu einem guten Leben in der Region bei und versuchen, die Menschen beieinander zu halten. Sie sind Teil der Daseinsvorsorge und schaffen weiche Standortfaktoren. Gerade in Krisenzeiten sind sie wichtiger denn je. Die Lausitz konkurriert auch hier mit den Großstädten um Fachkräfte, gleichzeitig stehen die Kommunen vor enormen finanziellen Herausforderungen. Wie kann hier ein Ausgleich erfolgen? Damit dürfen die Kommunen, vor allem in ländlichen Regionen wie der Lausitz, nicht allein gelassen werden. Es braucht adäquate Förderprogramme, die der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur gerecht werden, die die bestehenden Strukturen stärken und die moderne Organisationskulturen einfordern. 

Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass wir der Geschichte und den Traditionen der Lausitz mit Respekt begegnen und diese würdigen. Denn nur so können wir darauf aufbauen, Dinge verändern und die Region in eine Zukunft bringen, die zu ihr passt. 

Marius Koepchen: Sie haben schon viele Gründe erwähnt, warum junge Frauen aus der Region wegziehen, sowohl aus Ihrer persönlichen Perspektive betrachtet, als auch mit Ihrem Blick als Gleichstellungsbeauftragte. Gibt es noch weitere Gründe, warum junge Frauen aus der Lausitz wegziehen? 

Fränzi Straßberger: Ich finde es schon mal spannend, wer hier überhaupt zu den jungen Frauen zählt. Mit Ende 30 werde ich hier häufig noch als Teil dieser Gruppe gesehen. Da muss ich oft schmunzeln. Sitze ich hingegen in einer größeren Stadt im Café, sehe ich viel mehr weitaus jüngere Menschen um mich herum. Da zeigt sich schon die demographische Schere: Wer ist hier jung? Wer überlegt wegzuziehen und warum? Hier fehlt fast eine ganze Generation, die größtenteils in den 90er Jahren gegangen ist. Das macht den anstehenden Generationenwechsel unheimlich schwer. Oft sind die Lebensphasen, Ansichten und das, was einen beschäftigt, sehr weit voneinander entfernt. Ich frage mich wirklich: Wie bekommen wir den Generationenwechsel, vor allem auch in den Vereinen, hin? Dabei brauchen wir Vereine nicht nur, damit sich die Zivilgesellschaft organsiert, sondern auch für unser aller Zusammenleben. 

Schon rein demographisch bedingt, müssen Aufgaben von „vielen“ Schultern auf deutlich weniger Schultern verteilen. Gleichzeitig stecken gerade junge Frauen in der Rush-Hour des Lebens und sind mit vielen parallelen Aufgaben und Erwartungen konfrontiert. Da ist die Sorge groß, dass wenn Eine geht, die Last für die Verbleibenden noch schwerer wird und irgendwann gar nicht mehr zu (er)tragen ist. Viele Vereine und Gruppen funktionieren nur, weil einige Wenige Verantwortung übernehmen. Oft habe ich den Eindruck, dass jede für sich bangt: „Hoffentlich geht nicht noch eine“.

Marius Koepchen: Jetzt haben wir schon eine Menge behandelt. Uns interessiert auch besonders die Sorgearbeit, diese Carearbeit, die vor Ort gemacht wird. Wie sehen Sie die strukturelle Rolle von Carearbeit im Strukturwandelprozess? Was sind die zentralen Dinge, die gemacht werden, die so wichtig sind und die wegfallen würden, wenn Frauen gehen? Beispielsweise in Bezug auf bezahlte, wie auch unbezahlte Sorgearbeit.  

Fränzi Straßberger: Wer mehr Sorgearbeit leistet, hat weniger Zeit für Engagement. Also müssen wir sie gerechter verteilen. Es muss nicht immer fifty-fifty sein, aber fair und zur Lebensphase passend. Auch hier sind alle gefordert. Vor allem in der politischen Teilhabe von Frauen haben die ländlichen Kommunen noch viel Luft nach oben. Die Rahmenbedingungen sollten so gestaltet sein, dass alle, die sich gesellschaftlich und politisch einbringen wollen, dazu zählt auch der Strukturwandel, dies auch verwirklichen können. Leider muss man sich ein politisches Engagement nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich leisten können. Das Thema „effiziente Sitzungskultur“ sollte viel stärker in den Fokus rücken. Statt langer Redebeiträge und dem mehrfachen Wiederholen des zuvor Gesagtem, könnte man zur Ressourcenschonung aller, auch schneller zum Punkt kommen. 

Unbezahlte Sorgearbeit muss fairer aufgeteilt werden. Dazu braucht es auch mehr Männer, die aktiv für neue Modelle eintreten. Das kann die bereits angesprochene Teilzeit sein, die Inanspruchnahme von mehr als den zwei sogenannten „Vätermonaten“, Führung in Teilzeit oder auch der „politikfreie Sonntag“. Mobiles Arbeiten kann gerade im ländlichen Raum Wegezeiten massiv verkürzen und Vereinbarkeit erleichtern. Das geht natürlichen nicht in allen Berufsfeldern, aber mittlerweile in vielen. Leider müssen wir auch nach wie vor über die ungleiche Entlohnung von sogenannten weiblichen und männlichen Berufen sprechen. Hinzu kommt die deutlich geringere Tarifbindung im Osten. Freie Träger konkurrieren mit dem öffentlichen Dienst um Fachkräfte, sodass sich das Personalkarussell immer schneller dreht. Das geht an die Substanz der Organisationen, des Personals und letztlich aller, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind.

Marius Koepchen: Haben Sie abschließend noch etwas zu den gleichstellungspolitischen Sichtweisen auf die Lausitz zu ergänzen? 

Fränzi Straßberger: Wenn ich mir was wünschen könnte: Wir brauchen hier viel mehr Struktur, Gleichstellungsinfrastruktur in den ländlichen Räumen. Die Gleichstellung der Geschlechter braucht hauptamtliche, mit Ressourcen ausgestattete Akteur*innen, die diese stetig einfordern, fördern und voranbringen. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die fast jeden Lebensbereich mehr oder weniger betrifft. Das ist im Ehrenamt nicht leistbar. Wir müssen neue Wege der Zusammenarbeit ausprobieren und uns mit den unterschiedlichen Ebenen, Kommunen - Land - Bund - EU, gut verzahnen.

Demokratie und Gleichstellung gehören zusammen.

Marius Koepchen: Das ist doch mal ein guter Vorschlag. Vielen Dank für das Gespräch!

 

Fränzi Straßberger...

... ist die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bautzen. https://www.bautzen.de/adressen/gleichstellungs-und-frauenbeauftragte-strassberger-819

 

Paula Walk, Marius Koepchen, Johannes Probst und Josephine Semb...

 ... die Autorinnen des Interviews, sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

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