FRAUEN.GESTALTEN.WELTEN

Das Projekt Frauen.gestalten.Welten

… richtet sich vorrangig an Frauen* mit Fluchterfahrung, die in der Stadt – oder dem Landkreis Görlitz leben. Wir möchten Frauen* unterschiedlicher Herkunft einen Raum eröffnen, um sich zu begegnen, auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen, Ideen zu spinnen und diese umzusetzen. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, sich in herkunftssprachlicher Übersetzung Informationen zu zentralen und komplexen Themen im Integrationsprozess einzuholen. Durch die Projektstrukturen werden Frauen* außerdem verschiedene Ressourcen zugänglich gemacht, um sich als aktive Akteurinnen im Stadtgeschehen einzubringen.

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Entwickelt hat sich das Projekt…

… aus dem ehemaligen Café Hotspot als niedrigschwellig zugänglichen Begegnungsraum für Geflüchtete und Einheimische. Hier wurde im Rahmen des offenen Cafés die Möglichkeit geboten, sich in Alltagsfragen beraten zu lassen oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Daraus hat sich zum Beispiel die Migrantenselbstorganisation SYRLITZ entwickelt. Mit der Schließung des Café Hotspot verschwand ein wichtiger Ort für geflüchtete Menschen in Görlitz, der einzige seiner Art. Um aber auch zukünftig einen geschützten und diskriminierungssensiblen Raum, insbesondere für Frauen*, in der Stadt zu schaffen, konnte im April 2019 mit dem Second Attempt e. V. als Träger und gefördert durch den Freistaat Sachsen das Projekt „Frauen.gestalten.Welten – Beratung und Begleitung geflüchteter Frauen in die Selbstorganisation“ in seiner praktischen Umsetzung gestartet werden.

Der Grundgedanke war und ist, im Landkreis Görlitz Freiräume zu schaffen, um geflüchteten Frauen* die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Bedarfe sichtbar zu machen, sich in ihren oft geteilten Erfahrungen gegenseitig zu unterstützen und dabei erkennen zu können, dass hinter den individuellen Problemlagen oft strukturelle Benachteiligungen stehen. Für deren Veränderungen ist es lohnenswert, sich nachhaltig selbst zu organisieren.

Welche Bedarfe sehen wir?

Geflüchtete Frauen* sind in ihrem Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeit und Bildung, demokratischer Mitbestimmung sowie sozialer und kultureller Teilhabe strukturell benachteiligt. Nicht nur, aber besonders in peripheren Räumen sind die Möglichkeiten, sich außerhalb der Familie und dem Freund*innenkreis als selbstwirksam wahrzunehmen, durch den Mangel an Angeboten und Möglichkeiten sehr gering.  Die Folge daraus ist, dass viele daran zweifeln, einen aktiven Beitrag in der Gesellschaft leisten zu können, in der sie leben.  Das betrifft besonders Frauen* mit Kindern, denn aufgrund fehlender Kinderbetreuungsplätze ist der Zugang zu Sprachkursen und infolgedessen auch zu anderen Lebensbereichen erschwert. Viele Frauen*, die Betreuungsarbeit leisten, sind stark in häuslichen und familiären Kontexten eingebunden. Da die vielfältigen offenen Familienangebote der Stadt fast ausschließlich auf Deutsch beworben werden, kann es selten zu Begegnungen und Austausch mit anderen Görlitzer*innen kommen.

Fremdenfeindliche, rassistische und islamfeindliche Haltungen in Teilen der Mehrheitsbevölkerung erschweren Women of Color und insbesondere Frauen*, die ein Kopftuch tragen, den Alltag zusätzlich. Die Projektteilnehmerinnen machen alltäglich Diskriminierungserfahrungen auf verschiedenen Ebenen. So berichtete zum Beispiel eine Frau*, die auf Wohnungssuche in Görlitz war, dass viele Vermieter*innen beim Erstgespräch am Telefon direkt auflegten, sobald sie hörten, dass sie kein akzentfreies Deutsch spricht. Auch werden ihnen auf der Straße im Beisein der Kinder oftmals abwertende Kommentare hinterhergerufen oder es treffen sie missfällige Blicke.

In Folge solcher demütigender Erfahrungen äußern viele Projektteilnehmerinnen, dass sie sich keine langfristige Zukunft in der Region vorstellen können. Auch wenn sie die Stadt eigentlich schätzten, zum Beispiel aufgrund ihrer Größe, Ruhe und der Schönheit der Häuser, welche teilweise an syrische Städte der Vergangenheit und somit an die Heimat erinnern.  Aber die Aussicht auf bessere Erwerbs- und Bildungschancen in Großstädten sind enorme Pull-Faktoren. Insbesondere jüngere, engagierte geflüchtete Frauen* ziehen häufig, sobald es ihnen möglich ist, in größere Städte, nachdem sie hier vergeblich versucht haben einen Job oder eine Ausbildung zu finden.

Das zentrale Anliegen von Frauen.gestalten.Welten ist es daher, die gesellschaftlichen, sozialen, politischen sowie kulturellen Teilhabemöglichkeiten geflüchteter Frauen* zu stärken und somit einen Beitrag dafür zu leisten, dass sich die Lebensbedingungen in der Region verbessern.

Was machen wir konkret?

Ein Großteil unserer Angebote findet derzeit im Vis à Vis auf der Bismarckstraße 19 statt. Hier öffnet immer freitags das Café, in dem Frauen* sich auf einen Kaffee oder einen Chai treffen und austauschen können. Das hauptamtliche Team berät bei Bedarf zu verschiedenen Alltagsfragen, hilft beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen oder beim Schreiben von Bewerbungen und vermittelt gegebenenfalls an Fachstellen weiter. Eine der Mitarbeiterinnen übersetzt ins Persische, andere Projektteilnehmerinnen übersetzen ehrenamtlich ins Arabische und manchmal auch ins Kurdische. So bearbeiten wir die komplexen Formulare und Anträge von Behörden und anderen Institutionen oder begegnen anderen Anliegen gemeinsam. Das offene Café soll neben der Möglichkeit einer kostenlosen und niedrigschwelligen Beratung auch einen sicheren Raum für Selbstorganisation bieten. Deshalb sind neue Ideen und Impulse, die meist aus speziellen Bedarfen resultieren, jederzeit willkommen und gemeinsam suchen wir nach Lösungsansätzen und Umsetzungsmöglichkeiten. Auf Wunsch der Besucherinnen ist so beispielsweise unser monatlicher Handarbeitstreff entstanden, bei dem Frauen* gemeinschaftlich nähen, sticken oder stricken und in diesem Rahmen Bekanntschaften machen und durch das gemeinsame Tun ein bisschen Deutsch üben können.

Ein wichtiger Teil des Projekts ist die Organisation von Informationsveranstaltungen, Empowerment-Workshops und themenspezifischen Gesprächsrunden mit Expertinnen aus verschiedenen Bereichen rund um die Themen Familie, Gesundheit, Umgang mit Diskriminierung und soziales Engagement. In diesem Jahr wird zum Beispiel eine Projektteilnehmerin, die in Syrien Zahnmedizin studiert hat, eine Informationsveranstaltung zu Kinderzahngesundheit halten. Die Inhalte werden immer simultan in die zwei häufigsten Herkunftssprachen Persisch und Arabisch übersetzt. Um auch Frauen*, die Sorgearbeit leisten müssen, die Teilnahme an den Angeboten zu ermöglichen, bieten wir zuverlässig während aller Veranstaltungen und in den Kernöffnungszeiten am Freitag eine Kinderbetreuung an.

Da hinter der Kindererziehung eine geteilte Verantwortung steht, wünschen sich einige Frauen*, dass zukünftig auch die Väter an Informationsveranstaltungen teilnehmen. Deshalb werden manche Formate themenbezogen nun auch für interessierte Männer* geöffnet.

Neben den inhaltlichen Veranstaltungen möchten wir auch kreative und empowernde Freizeitangebote als Ausgleich zum oftmals anstrengenden und teilweise belastenden Alltag schaffen. So bieten wir beispielsweise einen wöchentlichen Frauen*-Fitnesskurs an. Einmal im Monat arrangieren wir außerdem ein „Feiern unter Frauen*“ an verschiedenen Orten in der Stadt. Dieses Format wird besonders gut angenommen, da es ermöglicht, zu guter Musik ausgelassen zu tanzen und im Idealfall für wenige Stunden die Mutterrolle abzulegen. Eine Besucherin verabschiedete sich nach einer der ersten Feiern dieser Art mit den Worten: „Das war das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich wieder getanzt habe.“ Diese Rückmeldung war sehr bezeichnend und machte klar, dass es solche geschlechtssensiblen Angebote in der Stadt dringend braucht.

Da soziale Angebote und kulturelle Veranstaltungen der Stadt nahezu ausschließlich einsprachig beworben werden, ist die Zugangsschwelle zu öffentlichen Einrichtungen für diejenigen Frauen*, die die deutsche Sprache noch nicht lesen können, sehr hoch. Um diese Zugangsschwellen ein wenig abzubauen, machen wir regelmäßig gemeinsame Ausflüge und besuchen verschiedene soziale und kulturelle Einrichtungen oder Veranstaltungen in der Stadt und im Landkreis. Solche gemeinsamen Ausflüge können für Teilnehmerinnen sehr empowernd sein, da das Auftreten als Gruppe die Angst vor diskriminierenden Anfeindungen in öffentlichen Räumen mindert.

Neben dem Bestreben, verschiedene Angebote in der Stadt zu initiieren, haben wir auch ein Interesse an der Vernetzung und dem Austausch mit Migrantinnen in der ganzen Lausitz. Deshalb besuchen wir regelmäßig verschiedene Vereine und Initiativen und laden diese auch nach Görlitz ein.

Was wir uns wünschen

… ist, dass unsere Veranstaltungsformate in Zukunft auch vermehrt von Görlitzerinnen besucht werden, die keine Flucht- oder Migrationsgeschichte haben. Bislang scheinen sich nur Wenige von unseren Angeboten angesprochen zu fühlen, was sehr schade ist. Zwar möchten wir insbesondere geflüchteten Frauen* mit unserem Projekt einen geschützten Rahmen bieten, gleichwohl ist es uns ein Anliegen, Begegnungsräume für Frauen*, unabhängig ihrer zugeschriebenen sozialen Kategorien, zu schaffen.

In diesem Sinne: Falls Leserinnen unter Ihnen/euch Lust bekommen unser Projekt näher kennenzulernen – alle interessierten Frauen* sind jederzeit herzlich eingeladen, einfach mal vorbeizukommen!

Unser Café ist immer freitags von 10 – 16 Uhr im Vis à Vis auf der Bismarckstraße 19 geöffnet. Alle weiteren Informationen zu aktuellen Veranstaltungen sind auf unserer Facebook-Seite zu finden.

Aufgrund der aktuellen Lage

… können auch unsere Angebote derzeit nicht in gewohnter Form stattfinden. Die Projektteilnehmerinnen stehen trotzdem telefonisch bzw. über Messengerdienste miteinander in Kontakt und versuchen sich so gut es geht gegenseitig bei Problemen und Herausforderungen in der Isolation zu unterstützen. Einige nähen derzeit Behelfsmasken und möchten diese insbesondere älteren Bewohner*innen der Stadt zukommen lassen, um dadurch einen Beitrag in der jetzigen Situation zu leisten.

In den meisten Haushalten sind primär Frauen* für die Betreuung, Erziehung und Bildungsarbeit der Kinder, das Kochen, das Putzen, die Haushaltsorganisation und die Pflege von Familienangehörigen zuständig. Daher sind sie generell von einer gesellschaftlichen Mehrfachbelastung betroffen. In Krisenzeiten, wie der Corona-Pandemie, wird dies noch deutlicher. Durch die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten müssen Mütter nun zusätzlich ganztags ihre Kinder betreuen und sie zu Hause unterrichten. Kinder bei den Schulaufgaben zu unterstützen, ist insbesondere für Frauen*, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist und die selbst noch nicht die Möglichkeit hatten, einen Sprachkurs zu besuchen, eine nahezu unmögliche Herausforderung. Weiterhin wird im jetzigen Anspruch an die Schüler*innen und deren Eltern nicht bedacht, dass nicht alle Familien gleichermaßen mit technischen Geräten ausgestattet sind oder derzeit darauf Zugriff haben. Durch die lange Zeit des Homeschooling ergibt sich insbesondere für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, eine Benachteiligungssituation für die weiterführende Schullaufbahn.

Ein weiteres Problem, das wir derzeit in unserer Arbeit beobachten können ist, dass wenig offizielle Nachrichten zur aktuellen Lage und den erlassenen (regionalen) Maßnahmen mehrsprachig herausgegeben werden. Viele Menschen informieren sich daher in ihren Herkunftssprachen über die sozialen Medien. So werden allerdings leider auch viele panikschürende Falschmeldungen bis hin zu Verschwörungstheorien verbreitet und es ist schwer unter den jetzigen Bedingungen hierüber ins Gespräch zu kommen.

Eine schnelle Veröffentlichung aller relevanten Nachrichten und Maßnahmen in verschiedenen Sprachen wäre daher, insbesondere in dieser Krisensituation, von offizieller Seite dringend notwendig! Denn nur so kann allen ermöglicht werden, die aktuelle Situation einschätzen und entsprechend verantwortungsvoll handeln zu können. Insbesondere für regionale Neuerungen übersetzen im Projekt nun regelmäßig eine arabische und eine persische Muttersprachlerin Informationen, die in unserer Messengergruppe geteilt werden und so hoffentlich auch darüber hinaus Menschen erreichen.

Abschließend halten wir die Formulierung aus der Bestandsaufnahme des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen vom 31. März 2020 für sehr treffend:

„Jede Krise verstärkt ohnehin schon bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und macht diese sichtbarer. Wir betrachten es als eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Aufgabe, jetzt mehr denn je ein besonderes Augenmerk auf diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu lenken, gegenzusteuern und für die Zukunft daraus zu lernen.“

Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit Pauline Hoffmann, Suha Husserieh, Sofia Abdullahi und Corinna Maria Speri.

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