Frauen sind dort, wo Neuland ist

Studien behaupten, dass zu wenig Frauen die Entwicklung im ländlichen Raum prägen. Ein Irrtum, sagt die Wissenschaftlerin Dr. Julia Gabler. Sie sind da – nur nicht gleich zu entdecken, weil sie einen anderen, ganzheitlichen Ansatz verfolgen.

Als ich 2013 nach Görlitz in Ostsachsen zog, hatten die Zeitungen gerade getitelt: „Wo sind all die Frauen hin?“ Fünf Jahre nach der Studie „Not am Mann“ des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bestätigte das Statistische Landesamt in Kamenz den Befund der Massenabwanderung
von Frauen aus den ländlichen Regionen in Sachsen erneut.

Eine Kollegin und ich kamen 2016 in  einer weiteren Studie zum selben Schluss, und auch 2021 wiederholten sich die Befunde der strukturell verhärteten Abwanderung jüngerer Frauen. Die anhaltende Aufmerksamkeit fürs Thema macht klar, warum es alle für so besonders halten, wenn in Projekten und Initiativen der Landgesellschaft Frauen aktiv sind: Wir geraten derart in Aufregungen darüber, als hätten wir eine selten gewordene Spezies entdeckt. Was für ein Irrtum. In einem Newsletter zu unseren Forschungen schrieb ich: „Wie erstaunt war ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt, und halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.“

Was ist da also los? Auf der Suche nach den Frauen gerät man in einen Strudel von Daten. Zuletzt  machte der Lausitzmonitor – eine repräsentative Befragung in Südostbrandenburg und Ostsachsen – wieder deutlich: Der Wunsch nach Bildung und (Mit-)Gestaltung sind wichtige Faktoren, warum junge Frauen ihren ländlichen Herkunftsräumen den Rücken kehren. Warum einige lieber nicht gehen, ist aber auch interessant: Familie, Freundschaften und das Dorf, in dem sie leben, sind ihnen sehr wichtig. Doch nur bei wenigen überwiegt diese Bindungskraft, bei den meisten siegt das Fernweh als Flucht aus der Enge der weiten Landschaften, in denen sie ungesehen sind. Auf der Suche nach neuen gedanklichen Horizonten verlassen sie die bewegungsarmen Dörfer, weil kein Bus, kein Fahrrad und erst recht kein Auto (nachts) das Bedürfnis nach Nahverkehr befriedigt – den nahen Verkehr mit Gleichaltrigen, Gleichgesinnten und Andersgestimmten. Zu bleiben und zugleich Entwicklungschancen zu entdecken – diese Kombination ist selten, aber auch nicht ausgeschlossen.

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Was brauchen Frauen also, um bleiben zu können? Seit den 2010er Jahren ist das Thema Rückkehr aktuell. Nach den Abwanderungsprämien gibt es nun Heimatpakete und Rückkehrertelefone. Statistisch gesehen kehren mehr Männer als Frauen zurück. Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück oder wandern gar zu und können mit ihrer Bildung erstmal nichts reißen. Männer finden deutlich leichter adäquate Jobs vor allem in Führungspositionen. Wie sich die Rückkehr für Frauen anfühlt, hat die Künstlerin Sabine Euler für die Plattform „F wie Kraft“ karikiert: „Hallo, bin wieder da! Ich habe frischen Mut, tolle Ideen und Top-Qualifikationen mitgebracht! Hallo? HAALLOOO!“

Erst sind sie baff, dann fühlen sich viele Frauen ignoriert und demontiert, wenn sie versuchen, in Wirtschaft, Verwaltung und öffentlicher Dienst qualifikationsadäquate Jobs zu finden. Wer sich selbstständig macht, klagt darüber, als Unternehmerin nicht ernst genommen zu werden oder über das Ideenstadium hinaus kaum Nachfrage zu bekommen. Einige werden den Verdacht nicht los, dass die Ideen dann aber trotzdem umgesetzt wurden. Leider von jemand anders. Mit viel Einsatz bauen sie sich ihre eigenen Wirkungsorte, damit sie eben nicht wieder nach Berlin oder Leipzig ziehen müssen.

Frauen sind also dort zu finden, wo Neuland entsteht. Sie besetzen leere Räume und funktionieren sie um, sie gestalten Kombinate, Kolabore und kollegiale Wirkungsorte wie Schulen und andere Häuser des Wandels. Dort sind sie meistens ganz vorne zu finden. Dabei
geht ihr Wirken häufig über die klassische Ehrenamtsarbeit hinaus. Nicht nur Kuchen backen für
das Vereinstreffen, sondern das Ganze im Blick haben: Wo kommt das Mehl oder die Milch für den Kuchen her? Wer soll was vom Kuchen abbekommen? Wo verteilen wir ihn, damit niemand so weit gehen oder fahren muss? Wie groß muss der Tisch für alle sein? Und was, wenn jemand kommt, von dem noch keiner weiß? Ach, ja: Musik wäre natürlich auch schön! Und – zack! – haben wir eine ganze Gesellschaft von Mit-Tätigen beisammen.


Und auch hier wächst eine neue Generation heran: Die noch viel jüngeren Frauen haben klarere Wirkungsansprüche als die Älteren – so macht es zumindest den Eindruck. Bei allem soll auch etwas herumkommen. Etwas, das sie zeigen können (auf Insta!). Meine Hoffnung ist, dass sie sich weniger an der Nase herumführen und mit vagen Aussichten locken lassen – denn mit losen Versprechungen passiert noch nichts. Das haben sie schon erfahren und der Blick in die Zukunft mahnt sie, lieber nicht so viel Zeit zu vertrödeln.

Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück und können nichts reißen.

Female Future, Plan W, Zukunft ist weiblich – dieser seit 2012 zum Megatrend erklärten „shift“ von männerdominierter und -getragener Versorger-Politik hin zu einer alle Geschlechter und Personengruppen verbindenden vorsorgenden und fürsorgenden Haltung, ist überfällig: Haushalten und Vorsorgen mit den Ressourcen, die wir gebrauchen und verbrauchen. Fürsorge gegenüber den Menschen, mit denen wir leben. Voraussicht auf den Wegen, die wir gehen. Tätigkeiten,
Perspektiven und Blickwinkel auf das „Ganze“ – das können Frauen häufiger einfach besser. Wir brauchen also einander, um einen Zukunftspfad für alle zu bauen.

Für den Strukturwandel in der Lausitz zieht der Lausitz-Monitor eine traurige Bilanz: Frauen wollen sich in der Lausitz – für dieses „Ganze“ – nicht engagieren. Für mich kein Wunder: Ihre Themen für das Ganze fehlen, ein wirtschaftsgetriebenes, investitionsorientiertes und patriarchales Projekt lockt keine Frau hinterm Ofen vor. Es wird von oben verfügt und bleibt intransparent. Es gibt lediglich die Aussicht auf Beteiligung. Aber das ist noch längst keine wirkungsvolle Mitentscheidung. Und damit kein Gestaltungsanspruch auf eine andere Zukunft.


Dr. Julia Gabler...

... lebt in Görlitz. Sie lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz im Master Management Sozialen Wandels und forscht u.a. zum Strukturwandel und ländlichen Gesellschaften. Letzten Sommer hat sie mit ihrer Familie ein Haus in einem Dorf an der Neiße gekauft: Rufbus, kein Internet und Reichsbürgerflagge im Garten des Nachbarn. Sie kann es noch immer nicht fassen, dass sie das wirklich getan haben.

Dieser Beitrag...

... ist erschienen in der Kolumne: FREI SCHNAUZE! des ...

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