„HETERO-SEX ORIENTIERT SICH AN MÄNNLICHEN BEDÜRFNISSEN“

Sexuelle Gesundheit – von Frauen und Männern – wird durch die Weltgesundheitsorganisation WHO beschrieben als

Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen.

Der nachfolgende Beitrag von Brigitte Theissl setzt sich mit sexueller Gesundheit aus einer feministischen Perspektive auseinander; er erschien zuerst in dem österreichischem Magazin an.schläge. Wir veröffentlichen ihren Beitrag hier erneut und bedanken uns für die Zweitnutzung. Zu dem Themenfeld sexuelle Gesundheit gibt es vom Frauengesundheitszentrum in Graz ein umfassendes Informationsangebot unter www.frauengesundheitszentrum.eu/sexuelle-gesundheit-von-frauen.

Frauen verdienen nicht nur weniger als Männer – sie kommen beim Hetero-Sex auch deutlich seltener zum Höhepunkt. Fünfzig Jahre nach den ersten, revolutionären Werken zur weiblichen* Lust ist es mit der sexuellen Befreiung nicht weit her. Für die feministische Debatte heißt das: zurück zum Start.

„Kannst du dich an deinen letzten Sex erinnern?“ Für einen Videobeitrag des britischen Magazins „Babe“ schlendert eine Redakteurin durch einen Londoner Bezirk und fragt junge (Hetero-)Männer nach ihren jüngsten sexuellen Erlebnissen. Ob er gekommen ist? Natürlich. „Und hatte sie auch einen Orgasmus?“ So sicher sei man sich da nicht. „Woher wusstest du dann, dass der Sex vorbei ist?“ Die verstörten Gesichter der Interviewpartner sprechen Bände: Den Samenerguss als Höhepunkt und Ende heterosexueller Begegnungen zu hinterfragen, scheint nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Erektion – Penetration – männlicher Orgasmus, so die gängige Formel patriarchaler Glückseligkeit. „Es ist völlig normal, dass der Mann immer einen Orgasmus hat. Wenn die Frau Glück hat, passiert es bei ihr eben auch – so wurde ich sozialisiert“, sagt Sara. Die 29-Jährige, die eigentlich anders heißt, führt aktuell eine Beziehung mit einem Mann und hat guten Sex – erstmals. Mit ihrem Ex-Freund war das ganz anders. „Hättest du mich damals um ein Interview über Geschlechterrollen und Sex gebeten, ich hätte bestimmt Nein gesagt.“ Offen über Sexualität zu sprechen sei immer noch tabuisiert, sagt Sara, ihre Beziehung wollte – oder aber musste – sie sich schönreden. In dem kleinen Ort, in dem sie aufgewachsen ist, bevor sie nach Wien zog, waren die Verhältnisse noch enger. Sexualpädagogik in der Schule? Fehlanzeige. „Erst als ich angefangen habe, mich mit feministischen Themen zu beschäftigen, sind mir immer mehr Dinge aufgefallen, ich habe Selbstverständlichkeiten erstmals hinterfragt“, sagt Sara, die als Projektmanagerin und am Wochenende in einer Bar arbeitet. Etwa dass Oralsex von Männern erwartet und in fast jedem Hollywoodfilm dargestellt, aber selten erwidert werde.

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Orgasmus-Lücke. Die männliche Orgasmus-Garantie lässt sich sogar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauern: In einer qualitativen US-amerikanischen Studie, die im vergangenen Jahr in der Fachzeitschrift „Archives of Sexual Behavior“ veröffentlicht wurde, gaben 95 Prozent der Männer an, in der Regel beim Sex zum Höhepunkt zu kommen. Bei lesbischen Frauen waren es immerhin 86 Prozent. Das Schlusslicht bildeten hingegen die Heteras: Nur 65 Prozent erleben regelmäßig einen Orgasmus beim Sex mit Partnern. Der Schlüssel zu dem ernüchternden Ergebnis liegt nicht in der mythenbehafteten, angeblich so komplexen weiblichen Anatomie, die Lesben besser verstehen würden – für die Orgasmus-Lücke zeichnet das Patriarchat verantwortlich. Hetero-Sex sei stark auf männliche Bedürfnisse ausgerichtet, so die Studien-Autorinnen, Frauen, die ihre Wünsche kommunizieren, experimentierfreudiger sind und manuell/oral befriedigt werden, erleben auch häufiger Orgasmen.

Norm-Sex. „Ich kriege keinen Orgasmus, mein Partner muss mich zusätzlich mit der Hand stimulieren, was stimmt bei mir nicht?“ Diese Frage gehört zum täglichen Geschäft von Kerstin Pirker. Die Sexualpädagogin arbeitet im Frauengesundheitszentrum in Graz, berät Mädchen und Frauen zu Fragen rund um Sexualität, sie leitet Workshops und hält Vorträge – zum Beispiel über die Klitoris. „Darüber rede ich mir eine gefühlte Ewigkeit den Mund fusselig. Es existiert noch immer so viel Unwissen“, sagt Pirker. Nach zwanzig Jahren sexualpädagogischer Arbeit zieht die Expertin eine ernüchternde Bilanz: Themen, die seit über vierzig Jahren in der feministischen Literatur verhandelt werden, sind immer noch brandaktuell. „Natürlich, es gibt gut gemachte feministische Pornografie, es gibt durchaus junge Frauen, die sich selbstbestimmt und lustvoll ausprobieren, polyamor leben – aber das spielt sich großteils in einer feministischen Blase ab, nicht in der breiten Gesellschaft“, sagt Pirker. Und neuer (Leistungs-)Druck würde hinzukommen: etwa durch medial vermittelte Bilder perfekter, normschöner Körper. Auch die Mainstream-Pornografie drückt sexuellen Vorstellungswelten einen rigiden Stempel auf: Mann „nimmt“ Frau, oral, vaginal, anal – so das pornografische Standardrezept.
„Mir fällt auf, dass Analsex zur Routine geworden ist. Meine letzten drei Sexpartner wollten mich richtiggehend dazu überreden“, sagt Stefanie, die in einer einseitig offenen Beziehung lebt. Dass das auch mit Pornografie zu tun hat, davon geht die 35-jährige Projektmanagerin aus. Sich öffentlich bedeckt halten, eigene Beziehungen schönreden, das kennt auch Stefanie. Mit gängigen Geschlechterrollen fühlte sie sich als Teenager ebenso unwohl wie im eigenen Körper, „da war eher das Gefühl, dass ich dankbar sein muss, wenn sich ein Typ für mich interessiert“. All die negativen Erfahrungen tauscht sie mittlerweile offen im Freundinnenkreis aus – die Kluft zwischen Filmbildern, Vorstellungen und dem realen Bettgeschehen, das sei ein verbindendes Thema zwischen Hetero-Frauen, meint Stefanie. „Meine Sexualität baute immer stark darauf auf, gesehen und begehrt zu werden, weil mir gefühlt nichts anderes angeboten wurde. Das hält sich hartnäckig und ärgert mich sehr.“ Umso wichtiger ist ihr heute eine offene Debatte – nicht zuletzt für die eigene Suche nach neuen Bildern und Konzepten.

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Schmerzfrei. In Sachen Pornografie ist auch die feministische Debatte nicht so offen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Während sich alarmistische Porno-Gegnerinnen und sexpositive Feministinnen*, die auf hochqualitative queer-feministische Pornografie setzen, unversöhnlich gegenüberstehen, bleibt der Mainstream-Porno, der jede kostenlose Internetplattform dominiert und damit Teil der Jugendkultur ist, häufig außen vor. Sexualwissenschaftliche Studien bescheinigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen sehr liberalen Umgang mit der Pornografie. Viele junge Frauen finden sie zwar nicht erregend, lehnen sie aber auch nicht ab. „Heute ist das eben so, das ist tatsächlich das Resümee der meisten ForscherInnen. Ich bin insofern skeptisch, als es einen starken Druck gibt, informiert und offen zu sein, alles schon probiert zu haben“, sagt Sexualpädagogin Kerstin Pirker. Die Sache mit dem Analsex kennt auch sie aus der Beratungsarbeit. Warum Menschen denn eigentlich Analsex haben, sei vor zwanzig Jahren eine typische Frage gewesen, heute ginge es oft darum, wie er ohne Schmerzen zu bewerkstelligen sei. „Wenn ich mit Mädchen hingegen darüber spreche, wie lustvoll es sein kann, sich selbst am Anus zu berühren, finden das dann viele eklig“, erzählt Pirker.
Ekel und Scham haben lange das Sexleben von Tamara geprägt. Als sie im Teenager-Alter die ersten sexuellen Erfahrungen sammelte, lautete die Botschaft ihrer Mutter: Ein Mädchen, das mit 15 schon einen Freund hat, ist ein Flittchen. „Wenn Mädchen sexuell aktiv wurden, Begehren äußerten, war das problematisch. Und ich denke, es ist heute – vor allem am Land – noch immer so.“ Die Vorstellung, dass Sexualität etwas Schmutziges, Beschämendes sei, prägte auch Tamaras Beziehung zum eigenen Körper, lange kämpfte sie mit einer Essstörung, erzählt die 34-Jährige, die am Stadtrand von Graz aufgewachsen ist und heute als Lehrerin in Wien arbeitet. In Beziehungen, in denen Tamara auch Gewalt erfahren hat, nahm sie vieles als selbstverständlich hin. „Beim Sex konnte ich meinen Kopf, meinen Körper quasi ausschalten, ich habe einfach mitgemacht.“ Als sie mit 26 nach London reiste und dort in einem Club einen Mann kennenlernte, verblüffte sie dessen Verhalten in der gemeinsamen Nacht: „Er fragte mich: Was willst du, zeig mir, was dir gefällt. Das hatte mich in zehn Jahren noch nie jemand gefragt“, erinnert sich Tamara.

Schamhaft. Psychologin Sandra Konrad, die im kürzlich erschienenen Buch „Das beherrschte Geschlecht“ Frauen eine Unterwerfung unter patriarchale Normen attestiert, die sich als selbstbestimmte Entscheidung tarne, betrachtet die Scham als zentrales Element weiblicher* Sexualität. „Scham sitzt Frauen wirklich in den Knochen, und Beschämung ist die stärkste Waffe patriarchaler Gesellschaften, um Frauen zu kontrollieren. Wenn sie sich nicht an die Regeln halten, sind sie entweder zu nuttig oder zu verklemmt“, sagte sie in einem Interview auf Diestandard.at. Im Zuge von #MeToo sieht Konrad die historische Chance, sexuelle Befreiung und Selbstbestimmung – die schon seit Jahrzehnten von Feministinnen* eingefordert werden – gesellschaftlich breit zur Debatte zu stellen.
Die feministisch lang erträumte „sexuelle Befreiung“ – ohne sexuelle Basisbildung und ein „Breitbandpaket“ wird sie nicht möglich sein, ist Kerstin Pirker überzeugt. Dazu gehören sexualpädagogische Angebote in allen Schulen, in gynäkologischen Praxen, entsprechende Ausbildungen für alle relevanten Berufsgruppen:

„Wir müssen die Debatte immer wieder neu aufrollen. Feministinnen sind Wegbereiterinnen, aber sie dürfen nicht davongaloppieren. Wenn Mädchen heute nach wie vor ihre Genitalien nicht benennen können, müssen wir wirklich zurück zur Basisbildung.“

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