Arbeit

Über Pflege

Den Tag der Pflege wollen wir von F wie Kraft nutzen, um an unsere Recherchereise durch die Lausitz zu erinnern. Vor über einem Jahr, noch bevor eine Pandemie sie in den Mittelpunkt rückte, recherchierten Jenny Bartel und Pauline Voigt zu einer der wichtigsten Berufsgruppen in der Lausitz: die Pflegerinnen. Nicht nur im Privaten übernehmen Frauen den Großteil der Sorgearbeit. Im Pflegesektor sind über 85% der Beschäftigten weiblich. Der Strukturwandel ist eine passende Gelegenheit, um in einer alternden Region ins Gespräch zu kommen, über die Bedingungen, Beteiligungen und Perspektiven insbesondere der Altenpflegerinnen.

Im Rahmen der ProduzentinnenTOUR sprachen wir mit Expertinnen und Pflegerinnen. Schon hier wird deutlich: Wer sichtbar über das Thema Pflege spricht, praktiziert sie nicht. Neben Expertinnen aus Gewerkschaft, Sozialplanung und Wirtschaftsförderung sprachen wir mit drei Pflegerinnen, die namentlich nicht genannt werden wollten. Sie aber waren es, die uns eine Welt vor Augen führten, die mitten in der Pandemie ins gesellschaftliche Blickfeld geriet und uns immerhin Applaus abrang. So zynisch die Geste der applaudierenden Menschen auf den Balkons hier und da auch kommentiert wurde, sie drückt das unbehagliche Verhältnis zu den professionellen Pflegekräften aus: Wir müssen begeistert sein, dass sie sich tagtäglich bereit erklären für einen Niedriglohn Jene zu pflegen, die dank fortgeschrittener medizinischer Standards noch leben können, es aber nicht mehr schaffen sich selbst zu versorgen. Und dann doch ihren letzten Lebensabschnitt dort verbringen, wo viele von ihnen nie landen wollten.

national cancer institute BxXgTQEw1M4 unsplash klein

Es ist erstaunlich, dass die meisten Pflegerinnen sowohl den Familienangehörigen wie den Bewohnerinnen eines Altenpflegeheimes so viel Lebensfreude entgegenbringen, als wöllten sie das Unausweichliche demonstrativ beschwichtigen: die Angehörigen von der Last des schlechten Gewissens befreien und den Pflegebedürftigen das Gefühl austreiben, abgestellt worden zu sein.

So wie das Sterben zum Altern, so gehört das Begleiten der Sterbenden wie der weiter Lebenden zum Alltagsgeschäft der Pflegerinnen. Neben dem Heben und Legen, Wenden und Füttern, Waschen und Karten spielen, Tabletten geben und Witze erzählen, Trinkmengen abfüllen und Windeln entsorgen, Lesen und Kämmen, Cremen und Wickeln, Protokollieren und Telefonieren, Erklären und Bitten, Berücksichtigen und Sorgen, scheinen sie nie zu vergessen, wie außergewöhnlich und sensibel dieser Abschnitt für alle Beteiligten ist. UND DAS ALLES JEDEN TAG FÜR 2.500 brutto, wenn’s gut läuft und sie bereit sind, Vollzeit zu pflegen. Deswegen müssen wir applaudieren.

Auch unsere Recherchezeit war begleitet von einer gewissen Scham. Nicht nur die besonderen Herausforderungen der Pandemie waren schuld, dass wir einen riesigen Bogen machten, um irgendwie in Kontakt mit Pflegerinnen zu kommen. Auch die Erkenntnis, dass professionelle Pflege vollen Einsatz verlangt und oft im Verborgenen stattfindet. Leider konnten wir pandemiebedingt nicht unserem aufsuchenden Ansatz folgen und mit den Pflegerinnen in ihrem Berufsumfeld sprechen, wo Knappheit (Zeit, Geld, Personal) herrscht, und der betriebsbedingte Stress natürlich Vorwürfe und Vorhaltungen produziert: bei den Angehörigen, den Pflegebedürftigen und den Pflegerinnen. Die körperliche Belastung gepaart mit psychischem Stress führen zu einer begrenzten Verweildauer in diesem Beruf. Da klingen die Durchhalteparolen der Bundespolitikerinnen zum Tag der Internationalen Pflege fast frech: mehr Zeit für Selbstverwaltung und Interessenorganisation kann unter den bestehenden Bedingungen kaum gelingen. Denn, das wissen alle, bevor eine Pflegekraft auf die Straße geht, kümmert sie sich lieber ein paar Minuten länger um ihren Schutzbefohlenen.

Mit dem Fokus auf Gesundheitswirtschaft und dem Ausbau der Ausbildungs- und Studiengänge im Pflege- und Managementbereich als Zukunftsfelder im Strukturwandel der Lausitz sind wichtige Schritte bereits getan; wünschenswert wäre, wenn die Chance genutzt würde, die erfahrenen Pflegerinnen aus der Region am ökonomischen Aufwärtsprozess teilhaben zu lassen oder ihnen Unterstützung durch fachlich versiertes Personal zu ermöglichen - das wünschen sich unsere Gesprächspartnerinnen nämlich.

Julia Gabler…

… ist Görlitzerin, Dozentin an der Hochschule Zittau/Görlitz, Autorin und Initiatorin des Netzwerkes F wie Kraft.

 

Foto: https://unsplash.com/photos/BxXgTQEw1M4

Den Tag der Pflege wollen wir von F wie Kraft nutzen, um an unsere Recherchereise durch die Lausitz zu erinnern. Vor über einem Jahr, noch bevor eine Pandemie sie in den Mittelpunkt rückte, recherchierten Jenny Bartel und Pauline Voigt zu einer

...

ÜBER VIELE BRÜCKEN MUSST DU GEHEN… FRAUEN AUF DEM WEG ZUR MACHT

Viele Frauen, die angefragt werden, sich für eine machtvolle Position – egal ob im hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Bereich – zur Verfügung zu stellen, haben Bedenken, in ein Spiel einzusteigen, das sie oft nicht kennen und von dem sie ganz stark vermuten, dass sie es auch nicht beeinflussen können. Das ist an und für sich vernünftig, in letzter Konsequenz allerdings sehr bedauerlich!

Ich werde hier einige der „Schluchten“ betrachten, die Frauen überwinden müssen, um eine Führungsposition nicht nur zu erreichen, sondern auch für sie befriedigend ausfüllen zu können.

Je mächtiger ein Posten, desto seltener wird er von einer Frau besetzt

Zunächst ein kurzes Lagebild, zum Beispiel, was Frauen in der Kommunalpolitik anbelangt: Zum mittlerweile vierten Mal führte die Fernuniversität Hagen im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung das „Genderranking“ durch.  Darin werden 73 Großstädte mit über 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern anhand ihrer Frauenanteile an kommunalpolitischen Führungspositionen – Ratsmitglieder, Dezernatsleitungen, Ausschuss- und Fraktionsvorsitze – sowie für das Oberbürgermeisteramt verglichen. Es zeigt sich, dass innerhalb von knapp zehn Jahren der Frauenanteil an den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern stark eingebrochen ist: von noch 17,7% 2008 auf 8,2% im Jahr 2017 – damit hat er sich in kurzer Zeit auf weniger als die Hälfte reduziert.

Der Frauenanteil unter den Dezernentinnen und Dezernenten ist dagegen als einzige politische Spitzenposition stark und kontinuierlich gestiegen: von 18,5 % 2008 auf 29,1 % 2017. Das wissenschaftliche Team der Fernuniversität führt dies darauf zurück, dass auf diesem Feld die beruflichen Qualifikationen von Frauen eine größere Rolle spielen als bei der Besetzung rein politischer Ämter.

Insgesamt gilt: Frauen sind, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, in den kommunalpolitischen Führungsämtern deutscher Großstädte auch 2017 unterrepräsentiert. Je wichtiger und mächtiger der Posten dabei ist, desto unwahrscheinlicher wird er von einer Frau besetzt.3 Ranking ostdt. Städte: Rostock (23), Leipzig (36), Dresden (37), Chemnitz (69)

Ein noch stärker polarisiertes Bild ergibt sich, wenn man die Frauenanteile in den Stadträten nach Parteien aufschlüsselt. Spitzenreiter sind Bündnis 90/Die Grünen mit der Erfüllung ihrer 50-Prozent-Quote, gefolgt von der Linken mit 44,4 % Frauenanteil (Quote 50%) und der SPD mit 37,3 (Quote 40%). Die einer Quote verpflichteten Parteien haben nicht nur hier einen deutlich höheren Anteil, sondern besetzen auch Fraktions- und Ausschussvorsitze deutlich stärker mit Frauen. Auf der anderen Seite unterbietet die neu hinzugekommene AfD, die nur in einigen Bundesländern in den Kommunalparlamenten vertreten ist, mit einem Frauenanteil von 11,6% noch die FDP, die 2008 mit 24,9% das Schlusslicht gebildet hatte und seither ihren Anteil nur geringfügig steigern konnte (auf 26,4% im Jahr 2017). Die CDU erreicht ihr eigenes Quorum von 33% (als Empfehlung) nur in 28 von 73 Großstädten.

Wenn die Politik den Frauenanteil in Kommunalparlamenten und kommunalen Spitzenpositionen in vertretbarer Zeit erhöhen möchte, bleibt als Maßnahme nur die gesetzlich festgelegte, verbindliche Quote, wie sie bereits in einigen europäischen Ländern gilt, zum Beispiel in Frankreich.

„Ohne die Quote würde es noch 128 Jahre dauern, bis eine paritätische Besetzung kommunaler Ratsmandate mit Frauen und Männern erreicht wäre – wenn man die Entwicklung von 2008 bis 2017 in die Zukunft fortschreibt,“

sagt Sabine Drewes, Referentin für Kommunalpolitik und Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung.

Kaffeekueche

Fehlende Erfahrungen mit Frauen in Leitungspositionen

Bei der Betrachtung dieses Lagebilds stehen wir vor der ersten Schlucht, die es zu überwinden gilt: die strukturelle, gesellschaftliche Schlucht. Hier geht es um Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, in den Köpfen von Frauen und Männern – mit allen Konsequenzen. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf zwei dieser Konsequenzen aufmerksam machen: Die Einstellungen von Frauen und Männern Chefinnen gegenüber und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatem – Stichwort hier: die „zweite Schicht“.

Die Gesellschaft für Konsumforschung fragte 509 Männer und 536 Frauen: „Wen hätten Sie lieber als Chef? Einen Mann? Eine Frau? Oder ist es Ihnen egal?“ Das Ergebnis: 49 % der Befragten sagen, sie würden einen Mann als Chef vorziehen. 49 % ist das Geschlecht egal, aber nur 10 % hätten, wenn sie es sich aussuchen könnten, lieber eine Chefin. Und: Unter Frauen ist die Präferenz für eine Chefin mit 12 % gar nicht wesentlich größer als unter Männern mit 9 %. Gisela Mohr, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Leipzig, wertet dieses Ergebnis als Indiz dafür, dass althergebrachte Einstellungen unter Männern und Frauen noch immer stark wirken. Sie sagt: „Wenn man davon ausgeht, dass unter denjenigen, die ‚egal‘ sagen, auch solche sind, die es als politisch inkorrekt oder für nicht mehr opportun halten, eine Frau als Führungskraft abzulehnen, ist das ein recht trauriger Stand.“ Das Problem: Viele Frauen und Männer denken immer noch, eine Chefin sei automatisch zickig. Offenbar hat sich diese Einstellung in den vergangenen Jahren kaum verändert. Mohr ermittelte bereits in einer im Jahr 2007 veröffentlichten Untersuchung, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen es ihren Chefinnen nicht leicht machen. Teammitglieder zeigen demnach weiblichen Führungskräften gegenüber weniger Respekt, unabhängig davon, ob sie selbst weiblich oder männlich sind. Als eine Erklärung sieht die Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung den Umstand, dass es nach wie vor nur wenige Frauen in Leitungspositionen gibt und den Befragten daher schlichtweg positive Erfahrungen fehlen. Viele Leute würden es einfach nur so kennen, dass der Chef ein Mann ist und würden dann vermutlich denken, dass sie damit stets gut gefahren sind. (Vgl. Anette Dowideit, S. 33)

Eine weitere Konsequenz der strukturellen Schlucht, die sich zwischen Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in unserer Gesellschaft auftut: Eine der häufigsten Antworten auf die Frage, warum so wenige Frauen in Vorbild-, Leitungs- oder Führungspositionen zu finden sind, ist die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.

Privatleben meint hier meist: Familienleben. Die Vereinbarung dieses Lebensbereiches mit dem Beruf ist eine Problematik, die sich auch heute noch nahezu ausschließlich Frauen stellt – und zwar so lange, wie männliche Führungspersonen die Tatsache, dass sie Kinder haben, mit dem Schließen der Haustür ganz einfach vergessen (können). Anders sieht das bei weiblichen Führungskräften aus: In der Regel gibt es auch für sie die „zweite Schicht“, wie Arlie Hochschild (1990) es genannt hat, wenn Frauen nach ihrem Vollzeiterwerbsjob außer Haus die zweite Schicht im Haus anschließen. Daran hat sich nichts geändert: Frauen leisten immer noch deutlich mehr Hausarbeit als Männer.

Welches Frauenteam holt sich schon einen Mann in die Kaffeeküche?

Eine zweite Schlucht tut sich auf, wenn man auf die Problematik aus institutioneller Sicht betrachtet. Auch hier zwei Beispiele: Zum einen das Phänomen der Selbstrekrutierung von Belegschaften bei Besetzungsverfahren. Zum anderen das Phänomen der Entkoppelung, also die organisationale Trennung von Formalstruktur und Aktivitätsstruktur.

Man weiß inzwischen, dass Teams darauf bedacht sind, eine organische Einheit zu bleiben, dass also alles so läuft, wie immer. Und dies ist am besten gewährleistet, wenn sich die Teammitglieder ähnlich, am besten gleich sind. Insofern sind diese Selbstrekrutierungsmechanismen bei der Neubesetzung von Stellen zwar durchaus nachvollziehbar – welches Team holt sich schon gerne und vor allem freiwillig einen Fremdkörper ins Nest. Trotzdem sind sie der Schrecken aller Gleichstellungsbeauftragten, da hier selbstverständlich alle objektiven Kriterien einer sich bewerbenden Person ausgeblendet werden. Diese Mechanismen betreffen alle möglichen Organisationen, vom Büro mit zwei Angestellten bis zur Partei. Und sie werden selbstverständlich auch in Frauenteams wirksam: welches gut funktionierende Frauenteam holt sich schon freiwillig einen Mann in die Kaffeeküche?

Und schon sind wir beim zweiten Beispiel für Abgründe auf der institutionellen beziehungsweise der organisationalen Ebene. Auffällig ist doch Folgendes: „Abnehmende Geschlechterungleichheit ist in einer beträchtlichen Anzahl von Organisationen oder in deren Teilen zu beobachten, während sich in anderen Organisationen Geschlechterungleichheit beibehält, vergrößert oder subtilisiert.“ Diese Beobachtungen macht Ursula Müller in ihrem Aufsatz „Organisation und Geschlecht aus neoinstitutionalistischer Sicht. Betrachtungen am Beispiel von Entwicklungen in der Polizei“ in den „Feministischen Studien“ (S. 40).

Woran liegt das? Was sind die Gründe für solche Erscheinungen?

klimaanlage graessel 2

Gleichstellung darf nicht nur heißen, dass es eine Gleichstellungsbeauftragte gibt

Um sich selbst beizubehalten beziehungsweise um die eigene Legitimität möglichst zu vergrößern, ahmen Organisationen durchaus Aktionen anderer Organisationen nach. Dabei wird entweder nachgeahmt, wenn eine Organisation unsicher ist oder wenn andere Organisationen als besser legitimiert und erfolgreicher erscheinen als die eigene. Dies beschreibt Ursula Müller auch für Gleichstellungsarbeit: Irgendwann, so meint sie, sahen sich einige Vorreiter-Organisationen in Deutschland durch internen Druck wie auch durch externe positive Beispiele bemüßigt, eine für Anti-Diskriminierung zuständige ‚Adresse‘ einzurichten, also eine Gleichstellungsstelle oder eine Frauenbeauftragte. Hierdurch entstand eine Unsicherheit für andere Organisationen, die beobachten mussten, ob sich eine Veränderung der Beschaffung von Legitimität und Ressourcen ergäbe, und viele reagierten mit nachahmenden Prozessen der Installierung einer ‚Beauftragten‘ für Frauen, Gleichstellung, Gleichberechtigung, Frauenförderung und ähnliche Bereiche ( Vgl. ebd.: 45).

Das heißt, Organisationen wie die Telekom – als Quotierungsvorreiterin! – ahmen einerseits nach (skandinavische Vorbilder zum Beispiel), und werden nachgeahmt, da sich Erfolge bereits eingestellt haben. Der Frauenanteil bei der Telekom hat sich bereits jetzt schon erhöht, das Unternehmen hat bundesweite Aufmerksamkeit erregt. Das muss aber nicht heißen, dass die einzelne Frau, die bei der Telekom arbeitet, etwas davon hat.

Meine Hochschule beispielsweise – dort kenne ich mich als ehemalige Gleichstellungsbeauftragte besser aus als bei der Telekom – hat schon einige Preise abgeräumt im Bereich von Frauenförderungsprojekten. Dies gelang aufgrund der an unserer Hochschule vorhandenen teilweise vorbildlichen Formalstruktur, was Gleichstellung anbelangt. Diese Struktur lässt sich ausgezeichnet an die äußere Umwelt, also entsprechende Jurys, verkaufen.

Auf der anderen Seite gibt es an unserer Hochschule aber immer noch Fakultäten mit nur einer einzigen Professorin, es gibt immer noch Berufungskommissionen ohne eine einzige Frau, und einzelne Gremienmitglieder verdrehen immer noch die Augen, wenn die Gleichstellungsbeauftragte – wie es ihr Recht und auch ihre Pflicht ist – zur Tür herein kommt und tatsächlich mitmachen will.

Diese Widersprüche: preiswürdig gegenderte Formalstruktur und zutiefst sexistisches Verhalten in der Aktivitätsstruktur, also auf der Ebene der einzelnen Akteurinnen und Akteure, das ist das, was Frauen an die allseits bekannte gläserne Decke stoßen lässt. Die besten Verwaltungsvorschriften, Erlasse und Gesetze nützen nichts, wenn wir die Aktivitätsstrukturen nicht verändern, wenn der Gedanke der Gleichstellung nicht nur formal, sondern handlungsleitend bei den Akteurinnen und Akteuren der Organisation angekommen ist!

Die eigentliche Messlatte für Frauen sind andere Frauen

Dass Teammitglieder – egal ob männlich oder weiblich – Teamleiterinnen oftmals den Respekt verweigern wurde hier schon beschrieben. Doch womit müssen „aus dem Team herausragende“ Frauen im Umgang mit anderen Frauen rechnen?

Viele Frauen in leitenden Positionen haben die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn sie ihrem Umfeld freundschaftlich, persönlich gegenübertreten, die Distanz und den Respekt ihrer Umgebung verlieren.

Gerade bei Frauen aus ihrem näheren Arbeitsumfeld kann durch ein freundliches Auftreten die Frage provoziert werden, was denn an der höhergestellten Frau so besonders sei und warum gerade das, was diese Frau sagt, gemacht werden soll. Das Perfide dabei ist, dass aufgrund traditioneller, sexistischer Vorstellungen in den Köpfen von Männern und Frauen aber genau das von Frauen, egal ob „oben“ oder „unten“ erwartet wird: Frauen SOLLEN sich familiär, freundschaftlich und persönlich verhalten. Frauen werden immer noch als Klimaanlage in Organisationen gesehen.

Zwei Gesichtspunkte spielen hierbei eine Rolle: Zum einen rückt die Stärke anderer Frauen die eigene Schwäche und Unzulänglichkeit in den Blickpunkt. Haben Frauen Macht, stellt sich für viele Frauen die Frage: Diese Frau ist stark, warum bin ich das nicht?

Zum anderen sind für viele Frauen die eigentliche Messlatte andere Frauen: Männer sind stark, Männer haben Macht, Männer laufen für viele Frauen außer Konkurrenz. Die Konkurrenz ist die Kollegin, die Parteifreundin, die Mitgliedsfrau, eben: die andere Frau. Mit Männern, denken Frauen, müssen sie sich nicht vergleichen. Männern werden selbstverständlich die ersten Listenplätze überlassen, aber wenn es um Platz 20 geht, kicken sich die Mitbewerberinnen gegenseitig aus dem Feld.

Für viele Frauen sind die eigentliche Messlatte also andere Frauen und viele Frauen vergleichen sich nicht mit Männern, sondern mit anderen Frauen – ist das immer schlecht?

Viele Frauen finden es unerträglich, zu gewinnen

Auch in individueller Hinsicht gibt es viele Gräben zu überwinden. Hier nur einige, wirklich schmerzhafte Schlaglichter:

Die prognos-Studie „Frauen in Führungs- und Leitungspositionen in der Privatwirtschaft im Freistaat Sachsen“ konstatiert eine im Vergleich zu Männern seltenere konsequente Karriereorientierung von Frauen: Aufgrund von vornherein eingeschränkten Karriereerwartungen und fehlenden Rollenvorbildern investieren Frauen oft weniger in ihren beruflichen Aufstieg. prognos 2010, auf Grundlage von Auswertungen vorliegender Daten zur Privatwirtschaft in Sachsen und insgesamt 17 Expertinnen- und Expertengesprächen

Viele Frauen scheuen sich auch deshalb vor öffentlichen, machtvollen Ämtern, da sie sich offensichtlich leichter mit Schwäche als mit Stärke identifizieren. Sie finden es weniger unerträglich, zu verlieren, als zu gewinnen: In einem Seminar sollten zwei Frauen so lange miteinander ringen, bis eine gewinnt. Die anderen anwesenden Frauen wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, die jeweils eine der beiden Ringerinnen anfeuern sollten. Das klappte alles ganz gut, bis sich herauskristallisierte, welche der beiden Frauen gewinnen würde. Ab diesem Zeitpunkt ging sämtliche Sympathie der Frauen auf die Verliererin über. Die Siegerin wurde nicht gefeiert, und sie selbst sah eher schuldbewusst und unglücklich auf die Verliererin (Flohr-Stein, Christa, Freundin – Konkurrentin!?, in: Frauenforschung 2 (1992) S. 131-141, S. 138).

Immer noch haben viele Frauen aufgrund ihrer Sozialisation aber auch Schwierigkeiten mit der Konkretion von Macht in ganz realen Alltagssituationen. Sie tun sich schwer mit einem gewissen Statusdenken, das für die Ausübung einer Spitzenfunktion unabdingbar ist. Status, die Stellung, die eine Person im Vergleich zu anderen Mitgliedern des jeweiligen Sozialsystems inne hat, wird angezeigt, wird zum Ausdruck gebracht, und zwar auf verschiedenen Kanälen. Der Ausdruck von Status dient dabei nicht nur der Orientierung für andere, also dafür, anderen anzuzeigen, mit wem sie es zu tun haben, sondern kann auch als Mittel der Durchsetzung, als Machtinstrument eingesetzt werden.

In einer gehobenen Funktion bedarf es einer gewissen Präsentation der eigenen Persönlichkeit. Vielen Frauen ist so etwas immer noch zuwider. Sie gehen immer noch eher zögerlich um mit Statusanzeigen wie Verfügung über Raum oder Zeit, Körperhaltung, Mimik, Gestik, Körperschmuck und Kleidung. Und: Frauen haben immer noch Schwierigkeiten, in der Öffentlichkeit laut, klar und deutlich und vor allem direkt zu sagen, was sie fordern (Gräßel, Ulrike, Weibliche Kommunikationsfähigkeit – Chance oder Risiko für Frauen an der Spitze?, In: Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung. Duden Redaktion (Hg.), Thema Deutsch, Band 5, Mannheim et al. 2004, S. 59-68.)

Ein letztes Schlaglicht auf die individuellen Gräben, die Frauen überwinden müssen, wenn sie an der Spitze stehen wollen ist die Tatsache, dass viele Frauen sich durch Selbstzweifel selbst ausbremsen. Frauen sind Tiefstaplerinnen (Schönberger, Birgit, Die Tiefstaplerinnen. Wie Frauen sich durch Selbstzweifel ausbremsen, in: psychologie heute, Januar 2010: 33-37).

Hierfür wiederum einige Belege:

Pauline Clance prägte Ende der 70er Jahre den Begriff des Hochstaplersyndroms für Menschen – ihrer Vermutung nach überwiegend Frauen – die trotz guter oder sogar überdurchschnittlicher Leistungen ständig an ihren Fähigkeiten zweifeln. Sie quälen sich mit dem Gedanken, den Erfolg nicht verdient zu haben. Sie glauben, dass sie nur durch Glück auf ihrem Posten gelandet sind und fürchten, eines Tages als Betrügerin, als Hochstaplerin aufzufliegen.

Astrid Schütz, Professorin für differenzielle Psychologie und Diagnostik an der TU Chemnitz, die zu Selbstwertunterschieden zwischen Männern und Frauen forscht, hat herausgefunden, dass Frauen, unabhängig davon, wie kompetent sie tatsächlich sind, ihre Aufmerksamkeit eher auf ihre Schwächen lenken und sich dadurch tatsächlich schwächen. Sie fand weiterhin heraus, dass Frauen dazu neigen, sich zu unterschätzen, Männer eher zur Selbstüberschätzung neigen. Eine mögliche Begründung dafür sieht Schütz darin, dass Frauen ihr Selbstwertgefühl mehr als Männer von den Rückmeldungen anderer abhängig machen, daher Angst vor Fehlern und negativer Rückmeldung haben und sich dadurch weniger in den Vordergrund wagen.

Frauen neigen immer noch dazu, Erfolge auf günstige Umstände zurückzuführen und Misserfolge auf die eigene Unfähigkeit, was bereits in der Grundschule beobachtet werden kann. Schütz vermutet, dass Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen unbewusst die selbstkritische Haltung von Mädchen verstärken.

Monika Sieverding stellte in einer Studie über eine simulierte Bewerbungssituation fest, dass Frauen durchschnittlich nur knapp 3 Minuten über ihre beruflichen und persönlichen Stärken sprachen, Männer im Schnitt eine Minute länger. In derselben Studie zeigte sich, dass Frauen sich auf einer Skala von 0 bis 9 mit 2,8, Männer mit 5 einschätzten. Im Vergleich zu einer vorgenommenen Fremdeinschätzung haben sich dadurch die Frauen unterschätzt, die Männer sich eher realistisch eingeschätzt.

Es wird also Zeit, dass wir anfangen hochzustapeln, dann stellen wir uns wenigstens realistisch dar!

Ulrike Grässel ist Professorin im Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule Zittau-Görlitz. Sie lehrt zu sozialpolitischen und organisationssoziologischen Themen und publiziert zu Geschlechtergerechtigkeit. 

 

Viele Frauen, die angefragt werden, sich für eine machtvolle Position – egal ob im hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Bereich – zur Verfügung zu stellen, haben Bedenken, in ein Spiel einzusteigen,

...

WAS WIR HIER BRAUCHEN IST ETWAS, DAS BERÜHRT

Aus der Lausitz ins Wendland und zurück: Sybille Tetsch ging in den 90er Jahren nach Niedersachsen, engagierte sich im Atomkraft-Widerstand. 2014 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Proschim gekommen, um sich gegen den Braunkohleabbau zu wehren. Weil beide aber nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat kämpfen wollten, eröffneten sie ihr Restaurant „Schmeckerlein“. Ein Besuch bei einer Lausitzerin, die den kulinarischen „Strukturwandel á la carte“ eingeleitet hat. 

12 Grad im Februar, Nieselregen, Brandenburg. Nach Proschim soll es heute gehen. An der Bushaltestelle des Bahnhofs wartet ein Auto, „Cowboys from Hell“ steht groß auf dem Kofferraum. Gleich neben dem Autokennzeichen prangt ein kleines Schild mit der Aufschrift „DDR“. Die Ostalgie ist hier noch zu Hause.

Der Bus fährt vorbei an stehengelassenen, auseinanderfallenden Häusern. Die Fenster zieren kleine Spitzengardinen. Sie glänzen so weiß, als wären sie gerade erst gewaschen und aufgehängt worden. Ein Zeichen der Zeit. Ein Zeichen für die Menschen, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft gezwungen sahen, ihrem Zuhause den Rücken zuzukehren.

Der Bus hält in Proschim, das in vielen Berichten als „das letzte Dorf“ bezeichnet wird, weil es das letzte in der Lausitz sein könnte, das von der Landkarte verschwindet. Seit Jahrzehnten sieht es sich schon durch die Braunkohle-Abbaggerung bedroht. Heute steht es immer noch.

Der Kohleausstieg ist für 2038 beschlossen, es scheint also, als wäre das kleine Lausitzer Dorf gerettet. Mittlerweile gehört es zur Stadt Welzow, „der Stadt am Tagebau“. Nur wenige Menschen, die gegangen sind, sind zurückgekommen. Eine von ihnen ist Sybille Tetsch. Sie wartet an einer kleinen Bushaltestelle. Ihre rote Regenjacke leuchtet vor dem Grau der umliegenden Häuser. Von hier sind es nur einige Meter bis zu ihrem Wohnhaus und Restaurant.

Sybille Tetsch in ihrem Element

„Strukturwandel á la carte“

Seit 2015 versucht sich Sybille Tetsch gemeinsam mit ihrem Mann Alexander im selbsternannten kulinarischen Widerstand und engagiert sich in verschiedenen Lausitzer Netzwerken wie etwa den Raumpionieren oder Neopreneurs. Hier würde sie vor allem auf junge Menschen treffen, sie schätze den Austausch und die Vernetzung übers Internet.

Zum Schmeckerlein gehören neben dem Restaurant nicht nur ein Kräutergarten und ein kleiner Hofladen, sondern auch ein großer Steinbackofen im Außenbereich. Dieser Ort unterscheidet sich von denen in der Nachbarschaft. In jedem Detail des Hauses stecken Hingabe und Geschichte. Selbst im Steinofen, in dem im Sommer Flammkuchen zum „Genuss unterm Sternenhimmel“ gebacken werden, sind besondere Steine verarbeitet. So stammt der Schlussstein über der Ofentür von einem Haus, das der Braunkohle weichen musste. Der Besitzer schenkte ihn den Tetschs mit dem Wunsch, dass der Ofen nicht dasselbe Schicksal teilen sollte.

So ein Ort wie das Schmeckerlein, der zum Zusammenkommen einlädt und liebevoll gestaltet ist, ist Sybille Tetsch wichtig. So etwas habe es vorher in dieser Gegend nicht gegeben, daher seien die Leute auch angetan: „Bisher sieht man nur, dass in jedem Ort ein Bagger-Schaufelrad steht. Etwas Rostendes, Riesiges, das die Landschaft kaputt macht. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen irgendwas machen, was die Leute berührt. Egal, ob das jetzt der Garten ist, um den ich mich kümmere, oder das Kochen meines Mannes. Hier fehlen Sachen, die berühren, die einfach schön sind.“

Dem Dorf etwas Neues schenken und der Braunkohle-Melancholie etwas entgegensetzen: Zwei Ziele, die Sybille Tetsch am Herzen liegen. Ein Teil ihres Wohnhauses ist zum Essbereich für den Winter umfunktioniert worden. Eine riesige Regalwand mit über 600 Kochbüchern lädt die Gäste dazu ein, zu stöbern und sich inspirieren zu lassen.

Ein Restaurant wie das Schmeckerlein habe in Proschim so niemand erwartet. Dass das Konzept aufgehen wird, erst recht nicht. Viele zweifelten die Idee der Tetschs an. Sybille Tetsch erinnert sich, dass sie sich nach ihrer Rückkehr mit der Resignation und der Ideenlosigkeit der Menschen des überalterten Ortes konfrontiert sah. Das Restaurant sei trotz vieler Stimmen, die nicht an seinen Erfolg geglaubt haben, ein beliebter Treffpunkt geworden. Die Tische sind am Vormittag zwar noch leer, aber für den Abend ist die Gastronomin bereits ausgebucht. Alle sind willkommen, auch die Leute aus dem Kohletagebau: „Wenn das Restaurant geöffnet ist, dann findet das Thema Braunkohle eigentlich nicht statt, weil wir alle Menschen ansprechen wollen: Die, die in der Kohle arbeiten und diejenigen, die dagegen sind. Und obwohl alle hier unseren Standpunkt kennen, scheint es zu funktionieren. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen wieder mit Respekt behandeln.“

Mit ihrem Konzept führt Tetsch Menschen an einen Tisch, die vielleicht schon länger nicht mehr miteinander gesprochen haben. Das sei im Dorf nach ihren Beobachtungen ohnehin ein großes Problem: „Dadurch, dass die Menschen hier jetzt schon mehrfach umgesiedelt werden sollten und durch diesen Umstand in Kohlebefürworter und Kohlegegner gespalten sind, haben die Leute sich nicht mehr gegrüßt. Sie haben die Straßenseite gewechselt – in einem 300-Seelendorf. Das ist wirklich ein Kommunikationsproblem. Viele Themen werden totgeschwiegen und kommen nicht auf den Tisch. Die setzen sich nicht zusammen und sagen: Lasst uns doch mal darüber reden.“

Verrückte Ideen braucht‘s

Dass die Leute im Dorf nur selten miteinander reden, liegt laut Tetsch auch daran, dass die meisten sich nur um sich selbst kümmern würden. Da scheint es nachvollziehbar, dass sie sich anfangs nicht ganz angekommen fühlte. Zwar habe sie den Eindruck, dass das Dorf derzeit wieder etwas zusammenwachse und man versuche, alte Traditionen wieder gemeinsam zu erleben, aber Tetsch macht deutlich: „Ich würde es mir noch bunter wünschen, und dass hier mal wirklich verrückte Ideen umgesetzt werden.“

Das betrifft in ihren Augen auch das große, allumfassende Thema Strukturwandel.
Wenn sie von der Lausitzer Natur spricht, dem Potential, das hier noch schlummert, dann überschlagen sich ihre Worte fast beim Erzählen. Dann sprudeln die Träume und Vorschläge nur so aus ihr heraus – was man hier noch alles machen könnte! Warum nicht Sägewerke, die das viele Holz aus den umliegenden Wäldern verarbeiten könnten.

Sie glaube nicht an den aufgesetzten Strukturwandel. Und auch das Wort mag Sybille Tetsch nicht: „Ich finde, der Strukturbruch ist mit der Wende passiert, als hier die ganzen Kraftwerke zugemacht worden und die jungen Leute abgewandert sind. Da hat kein Mensch von Strukturwandel gesprochen.“

Sie glaube viel mehr daran, dass es den sich langsam entwickelnden Strukturwandel „von unten“ geben müsse. „Das ist sicherlich nicht ganz einfach in einer Gegend, wo die Leute lange Zeit gesagt bekamen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Ich denke aber, dass sich die Menschen mit einem Landstrich und mit dem, was sie tun, identifizieren müssen. Und wenn vieles von außen aufgesetzt wird, könnte es schwierig werden“, meint sie. Mit dem Schmeckerlein versucht sie, ihren Beitrag zu leisten. Einen, der Mut braucht und Menschen, die Lust haben, neue Projekte zu starten, sich auszuprobieren. Sie möchte Menschen zusammenbringen, die an der Verwirklichung solcher Projekte arbeiten. Deswegen will Sybille Tetsch auch als Vorbild dienen und sich mit dem Schmeckerlein als Botschafterin verstanden wissen. Ihre Message: Probiert Eure verrückten Ideen doch einfach mal aus. Ein Künstler*innenhaus könnte sie sich vorstellen, ein Projekt, das junge Menschen fördert und aufs Land bringt. Ihre Hoffnung sei auch, dass Menschen zurückkommen und das Vakuum in der Lausitz als Chance sehen.

Tetsch macht sich auch Sorgen darum, dass sich immer mehr Menschen rechtspopulistisch äußern und die AfD wählen: „Dass die Leute sich damit selber schaden, das sehen sie nicht. Ein 30-jähriger Arzt, den wir brauchen, der kommt nicht hier her, wenn hier die AfD im Stadtparlament sitzt oder den Bürgermeister stellt. Aber das ist den Leuten nicht klar.”

Wenn das schlimmer werden sollte, würden sie und ihr Mann vielleicht sogar wieder weggehen.

"Frauen kämpfen auch deshalb mehr um ihre Rechte, weil denen nichts in den Schoß gefallen ist. Die müssen kämpfen.“

Eine Frau in der Lausitz

Es scheint fast so, als ließe Sybille Tetsch sich von niemandem beirren, erst recht nicht von Männern. Mit ihrem Mann hat sie zwar schon in Niedersachsen zusammengearbeitet, aber abhängig hätte sie sich da nie gefühlt. Es wird deutlich, dass sie sich als Team verstehen. Aber wie war es für die Proschimerin als Frau in der Lausitz vor ihrem Weggang in den Westen?

Kurz vor der Wende begann sie eine Ausbildung zur „Revierförsterin“. Dass sie dort vor allem mit Männern zusammenarbeiten würde, stellte für sie gar kein Problem dar: “Ich habe immer lieber mit Männern gearbeitet. Ich mochte es auch, körperlich schwere Arbeit zu leisten. Ich wurde da akzeptiert. Das wird aber auch ein Unterschied zwischen Ost und West sein, denn die Männer im Osten waren ja auch so sozialisiert und es gewöhnt, dass da immer Frauen mit im Betrieb gearbeitet haben. Als ich mal auf einer Recyclinganlage gearbeitet habe, da hat auch keiner gefragt. Wenn da keiner da war, dann musste ich den wartenden LKW mit unserem Radlader beladen. Am Anfang haben die von dem Fuhrunternehmen vielleicht noch geguckt, weil sie Angst hatten, dass ich den LKW kaputt mache, aber das ging nicht anders.”

Allerdings wurden die Frauen nach der Wende in der Forstwirtschaft nicht mehr gebraucht. Doch auch diese Ansage verwandelte Sybille Tetsch damals in Tatendrang und begann ein Studium in Halle zur Umweltschutztechnikerin. Und ganz nebenbei war sie im Jahr 1994 Gründungsmitglied der Landfrauen in Proschim.

Frauenvereine für den Zusammenhalt

Der Landfrauenverband ist ein Verein, der zeigt, wie wichtig die Bedeutung der Frau auf dem Land überhaupt ist. Frau Tetsch erzählt, dass der Verein der Landfrauen sich gegründet habe, als das Dorf Proschim zum ersten Mal gesagt bekam, dass es stehen bleiben dürfe. Eine Bäuerin aus dem Dorf sei zu einem Treffen der Landfrauen in den alten Bundesländern gefahren und entschloss sich, so einen Verein auch in Proschim zu gründen. Der Grundgedanke dahinter: Frauen zusammenbringen. Vor allem Frauen, die nach der Wende arbeitslos geworden waren. Letztlich entwickelte sich aus einer kleinen Gruppe schließlich ein großer Orts-Landfrauenverband. Sybille Tetsch resümiert: „Ich glaube, dass die Landfrauen es damals geschafft haben, das zerrissene Dorf wieder zu einen. Als die Männer vielleicht noch nicht wieder miteinander gesprochen haben, haben sie gesagt: Jetzt machen wir ein Grillfest, jetzt machen wir etwas Schönes zusammen und sie haben die Männer mitgenommen und sie wieder zusammengebracht.“

Ihre Hoffnung setzt Sybille Tetsch auch in die jungen Frauen, etwa solche, die sich aktiv bei Fridays for Future einsetzen. Ihrer Meinung nach denken Frauen zukunftsorientierter als Männer: „Frauen kämpfen für die Zukunft, weil sie an die nächste Generation denken. Männer wollen den Status quo halten, wenn man so will. Sie wollen ihre derzeitige Macht sichern.“

Sybille Tetsch ist so eine Kämpferin. Und eine Ideengeberin, die viel Hoffnung darin setzt, dass irgendwann jemand ihrem Beispiel folgt und aus einer kleinen Idee etwas Schönes in Proschim schafft. Und wer weiß, vielleicht steht ja dann eines Tages – ein paar Häuser weiter vom Schmeckerlein – eine Ideenschmiede für Künstler*innen.

Aus der Lausitz ins Wendland und zurück: Sybille Tetsch ging in den 90er Jahren nach Niedersachsen, engagierte sich im Atomkraft-Widerstand. 2014 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Proschim

...

WENN IHR STARKER ARM ES WILL

Ullrich Heinemann hat 46 im und für den Lausitzer Bergbau tätige Frauen an ihren Arbeitsplätzen fotografisch porträtiert. Die Wanderausstellung war von 2018 bis 2020 im Revier zu sehen. Heike Irion hat sich die Ausstellung angesehen und ausführlich mit Heinemann sprechen können. Eine persönliche Annäherung an ein kontroverses Thema.

Der respektvolle Blick

„Es geht nicht um mich“, sagt Ullrich Heinemann, als wir uns an einem sonnigen Oktobermorgen im Gemeindehaus von Neuhausen/Spree hinter unseren Mund-Nasen-Masken unterhalten. Hier stehen die Frauen im Mittelpunkt seiner großformatigen Fotografien, dafür war er bei manchen Bildern auch bereit, eigene Ansprüche an die Komposition zurückzustellen. Ebenso uneitel zeigten sich die Porträtierten. So, wie er sie antraf, in Verwaltungsgebäuden, neben riesigen Anlagen, im Tagebau, zum Teil verschwitzt und verstaubt. Mit großer Selbstverständlichkeit stehen sie da, vor „ihren“ Geräten und Anlagen, vor dem Bildschirm, der Halde. Mit Helm, mit Multimeter, auf der Kanzel, am Steuer. Auf vielen der Aufnahmen leuchtet das Orange der Firmenkleidung. Am eindrücklichsten aber sind die Gesichter.

Tine Jurtz Fotografie 2020 10 9263 768x512

„Frauen im Lausitzer Revier“ heißt die Fotoausstellung, und ins Revier ist Ullrich Heinemann für seine Porträts gegangen. Er war selbst bis zur Pensionierung im Lausitzer Bergbau tätig, noch heute begleitet er Besucher*innengruppen durch den Tagebau Welzow-Süd, man kennt sich. „Ich habe wahnsinnige Hochachtung vor diesen Frauen, die in drei Schichten, Tag und Nacht, dafür sorgen, dass wir stabil Strom haben, und das oft noch zusätzlich zu Haushalt und Familie“, erklärt der Fotograf. Diese Haltung spricht sowohl aus seinem Auftreten als auch aus seinen Bildern.

Sein so respektvolles Frauenbild habe er von zu Hause mitbekommen, wo Vater und Mutter liebevoll vorlebten, dass Männer und Frauen gleichwertig sind und gleichberechtigt sein können. Mit dieser Einstellung ist er auf die Frauen im Tagebau zugegangen.

Gesicht zeigen

Viel Überzeugungsarbeit habe es nicht gebraucht, die Mehrzahl der Kolleginnen war schnell bereit, sich porträtieren zu lassen. Hilfreich war dabei sicherlich das aktive Mitwirken von Silke Butzlaff, Eimerketten-Baggerfahrerin im Tagebau Welzow-Süd. Gemeinsam mit Heinemann erarbeitete sie die Idee zum Projekt und verbreitete diese unter den Kolleginnen. Sie vermittelte Kontakte und begeisterte die Frauen. Wenn Heinemann auf Schicht nach einem verabredeten Fototermin noch eine weitere Kollegin für ein spontanes Shooting vor Ort ansprach, dann wusste auch diese bereits Bescheid über das Projekt.

Für Butzlaff war „Ende Gelände“ im Jahr 2016, die Besetzung und Blockade des Kraftwerks Schwarze Pumpe durch Umweltaktivst*innen Anlass, etwas tun zu wollen: Die Kumpel sollten mit ihrem Porträt für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze einstehen, der Braunkohle ein menschliches Antlitz geben. Diese Idee konnte nicht realisiert werden, aber es wurde aus ihr das Thema „Frauen im Lausitzer Revier“ geboren. Mit Würde und Anstand wolle er die Wertigkeit der Arbeit dieser Frauen zeigen, erzählt Heinemann, das sei sein Hauptanliegen gewesen.

Mit selbstbewusstem Blick zeigen sich die 46 Kolleginnen, jede an ihrem Arbeitsplatz, in Arbeitskleidung, so, wie sie sich vor Schichtbeginn selber geschminkt haben oder nicht, in den meisten Fällen nur mit natürlichem Licht fotografiert. Von der Verwaltungsassistentin bis zur Ingenieurin ist eine möglichst breite Palette der Berufe im Tagebau vertreten, auch das war Heinemann wichtig. Von zwei Auszubildenden Mechatronikerinnen bis zu noch in der DDR ausgebildeten Baggerfahrerinnen, die in absehbarer Zeit aus dem Berufsleben ausscheiden werden, sind alle Altersgruppen vertreten. Auffallend ist dabei, dass die Mehrzahl der abgebildeten Frauen in hochqualifizierten und hochspezialisierten Positionen tätig ist.

Tine Jurtz Fotografie 2020 10 9202 scaled e1603723471961

Beim Betrachten fällt mir auf, dass viele dieser Arbeitsplätze eines gemeinsam haben: Viel Technik. Wenig Mensch. Dort kontrolliert eine Kollegin tonnenschweres Gerät, tausende Megawatt Strom auf Knopfdruck. Ihre Kompetenz und ihr Stolz sind diesen Frauen ins Gesicht geschrieben, diesen Frauen, die im Alltag für uns unsichtbar souverän sehr große Verantwortung tragen.

Die Bilder vermitteln den Eindruck, dass jede einzelne dieser Frauen ohne Zögern die Gelegenheit ergriff, sichtbar zu werden, sich und ihre Leistung zu zeigen. Nur vier von 50 fotografierten Frauen gaben am Ende kein Foto für die Ausstellung frei.

Energiegewinnung aus Braunkohle ist ein Auslaufmodell, aber: „Solange es politisch gewollt ist, machen sie diese wichtige Arbeit“, kommentiert Heinemann, „ich ziehe den Hut vor dieser Verantwortung, das sind alles starke Frauen.“ Die sich zufrieden zeigten, im Reinen mit sich und ihren Berufen, fröhlich, was das Leben ihnen auch an Schwierigkeiten bereite. Ich sehe in ihre Gesichter während wir uns unter der hellen Lampe im Verwaltungsflur unterhalten: die Feuerwehrfrau, die Industrieelektronikerin, die Gleisarbeiterinnen, und mir wird sehr bewusst, dass Strom von Menschen gemacht wird.

Ullrich Heinemann wird die Fotos bald einpacken und bei sich zu Hause einlagern, die Reise seiner Ausstellung ist vorerst beendet. Vernissage war im November 2018 im Kraftwerk Schwarze Pumpe (das traf sich terminlich fast auf den Tag mit dem 100-jährigen Jubiläum der Erringung des Frauenwahlrechts in Deutschland, bemerkt Heinemann schmunzelnd), im Juli 2019 zog die Ausstellung weiter nach Boxberg, ab September 2020 sollten die Fotos eigentlich im Kraftwerk Jänschwalde zu sehen sein, was die Corona-Pandemie verhinderte, sodass sie zuletzt verlängert in der Gemeindeverwaltung Neuhausen/Spree hingen.

Wenn es nach Heinemann ginge, könnte seine Ausstellung weiter wandern, auch über sein Revier hinaus: „Die Porträts müssten auch in anderen Orten gezeigt werden, z. B. in der Energiefabrik Knappenrode oder sogar im Deutschen Bergbaumuseum in Bochum.“ Beiden würden diese kraftvollen Bilder sicher gut stehen.

Vom Revier ins Studio

Ein bleibendes Zeugnis der „Frauen im Revier“ liegt neben mir, während ich diese Zeilen tippe. Ein Projekt, das aus dem ursprünglichen Fotoprojekt geboren wurde, nämlich ein Kalender 2020, in dem sich 12 der 46 Frauen nochmals vor Heinemanns Kamera begaben. Diesmal im zum Studio umfunktionierten Hobbyraum im Keller seines Hauses bzw. in dessen Garten.

Jede der Frauen hatte freie Hand bei der Auswahl ihrer Kleidung und beim Styling, das eine befreundete Stylistin übernahm, und alle 12 entschieden sich für großen Kontrast zu den ersten Bildern. In zum Teil betont weiblicher Kleidung, auffallender geschminkt, die Haare frisiert, geschmückt, zum Teil sehr privat. Im Brautkleid. Im Dirndl. Als Clown.

Tine Jurtz Fotografie 2020 10 9191 768x1152

Auch im Blick hat sich etwas verändert. Mir fallen meine Jahre in einem „Männerdomäne“-Beruf ein, und wie ich mir mit der Arbeitskleidung zugleich jedes Mal meine Arbeitspersönlichkeit überzog. Eine solche legen sich alle Berufstätigen zu, für Frauen in „Männerberufen“ ist es aber nochmal besonders. Ich sehe im Vergleich jetzt deutlich, dass sich die Frauen im Revier bei Schichtbeginn mit der Firmenkleidung auch ihr Schichtgesicht anziehen.

Unter den großen Studio-Porträts zeigt der Kalender im kleineren Format Heinemanns Fotos der Frauen am Arbeitsplatz, gerahmt von dramatischen Weitwinkel-Fotos dieser Arbeitsplätze in den Tagebaulandschaften. Zumindest im Kleinen bleiben also einige der Fotos noch eine Weile sichtbar.

Die heiße Kartoffel Kohle, oder: Strukturwandel?

Ich fahre zurück in die Stadt, die ihre Stromversorgung zum Großteil auf erneuerbare Energien umgestellt hat[1] – beeindruckt, berührt, im Kopf sich neu formende Fragen.

Es fällt mir leicht, diese Frauen und ihr Können, ihre Lebensleistung zu respektieren. Ich möchte mich verführen lassen von diesem Gedanken: Die machen da nur ihre Arbeit, die Entscheidung treffen ja andere. Zugleich erkenne ich, wie problematisch er ist.

Kaum ein Berufsfeld bringt – für ganze Regionen – so viel Identität und Identifizierung mit sich wie die Kohle. Ich bin nahe am Ruhrgebiet aufgewachsen, war mit Bergmannskindern befreundet, ich habe die Arbeitskämpfe in der Stahlindustrie und in den Gruben hautnah erlebt. Im Schacht musst du dich absolut aufeinander verlassen können, das schafft Gemeinschaft, das formt Menschen. Die Arbeit ist schwer und gefährlich, aber du machst sie, damit alle anderen im Land es warm haben. Das war viele Jahrhunderte lang wahr.

Auch im Braunkohle-Tagebau ist die Arbeit für viele Kolleginnen noch hart. Sie gehen da raus, bei jedem Wetter, es ist laut und staubig. Der Zusammenhalt, der Stolz dieser Kolleginnen ist über Jahrhunderte gewachsen, ihre Tätigkeit hat der Lausitz vielerorts ihr heutiges Gesicht gegeben. Natürlich wünsche ich den Kumpeln hier, dass ihre Leistung wertgeschätzt wird. Den Frauen der DDR-Generationen mit diesen ausdrucksstarken Gesichtern, in die so viel Leben gezeichnet ist, natürlich wünsche ich ihnen, dass sie ihre letzten Berufsjahre ohne großen Umbruch absolvieren dürfen.

„Wir haben hier ja schon einen Ausstieg mitgemacht“, sagt Heinemann, damals in den 1990ern, als achtzig Prozent der Kapazitäten runtergefahren wurden. Die Region hat bewiesen, wie in diesem Bruch neue Höchstleistung aufblühen konnte. Damals wurde aber auch viel gerettet. Ganze Orte, Ortsteile und Landschaften vor der bereits geplanten Abbaggerung.

Was für eine verpasste Chance, denke ich. Diese Kompetenzen und Technologien mussten damals nicht zwangsläufig zum Braunkohleabbau (weiter-)entwickelt werden, das war eine Entscheidung. Eine Entscheidung im Angesicht schon damals alarmierender CO2-Emissionen und düsterer Prognosen für Klima und Menschheit.

Sie ist politisch gewollt, diese Tagebau-Braunkohle, sonst würde die Energiewende nicht wieder und wieder verschoben werden. Vom Strukturwandel sei hier im Revier noch nichts zu spüren, attestiert Heinemann, keine sichtbaren Anstrengungen würden unternommen, um eine Umstellung auf erneuerbare Energien vorzubereiten.

Ich denke an diese Gesichter der Braunkohle und denke, dass das Wissen und Können der hier gezeigten Frauen und ihrer Kolleg*innen sicher auch in anderen Bereichen gut genutzt werden könnten, zum Beispiel um genau diesen Strukturwandel einzuleiten und umzusetzen. Ich denke: Wie oft wurden und werden notwendige Veränderungen von Frauen bewirkt – das ist ein Gespräch, das ich mit den Frauen selber führen möchte.

[1] Quelle: https://www.stadtwerke-goerlitz.de/fileadmin/docs/pdf/privatkunden/strom/Vero%CC%88ffentlichungen/Stromkennzeichnung_2018_20191206.pdf

Tine Jurtz Fotografie 2020 10 9339 768x512

Ullrich Heinemann…

… Jahrgang 1947, hat im Kaliwerk Roßleben in Thüringen gelernt und war von 1974 bis 2001 im Lausitzer Revier in unterschiedlichen Funktionen tätig. In den Jahren 1978/79 absolvierte er über den Kulturbund der DDR die Ausbildung zum fotografischen Zirkelclubleiter und leitete bis zur Wende den Fotoclub „Glück auf“ im Kulturhaus der Bergarbeiter Cottbus, der zwei Mal die Goldmedaille bei den Arbeiterfestspielen gewann. Im Vorruhestand gründete und leitete er seit 2006 einen zweiten Fotoclub „Glück auf“, dessen sechs Mitglieder in zehn Jahren 25 Ausstellungen produzierten. Diese wurden u. a. in Stockholm, Potsdam und verschiedenen Städten der Lausitz gezeigt. Die hier besprochene Ausstellung ist seine erste Porträtausstellung.

Interessierte können ihn als Gästeführer im Tagebau Welzow-Süd antreffen.

Heike Irion…

… Jahrgang 1975, wuchs in der Nähe des Ruhrgebietes auf und kam über Berlin und England 2016 in die Lausitz. Sie hat eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin und einen englischen Bachelor als Event Designerin und Produzentin. Sie ist seit 15 Jahren freiberuflich kulturschaffend tätig, u. a. als Regieassistentin, Übersetzerin, Pyrotechnikerin und Autorin. Seit 2020 lebt sie mit Mann und Kind in Görlitz.

Fotografische Begleitung des Interviews…

… von Tine Jurtz

Ullrich Heinemann hat 46 im und für den Lausitzer Bergbau tätige Frauen an ihren Arbeitsplätzen fotografisch porträtiert. Die Wanderausstellung war von 2018 bis 2020 im Revier zu sehen. Heike Irion hat sich

...

ZWISCHEN RAUCHENDEN ÖFEN UND SAUREM REGEN

Angelika Heiden setzte sich als erste Doktorandin an der Ingenieurhochschule in Zittau zum Thema regenerative Energien ein und als Frau durch

Angelikas Lebensgeschichte und ihre starke innere Haltung, die sie mit einer eigenen Willenskraft ausstrahlt, faszinieren mich. Angelika hat sich immer wieder ihren eigenen Weg gesucht und ist für ihr Anliegen eingestanden. Zielgerichtet schlägt sie sich als erste Frau, die zum Thema Energiesparhäuser in der Lausitz promoviert, teils alleinerziehend und teils mit Unterstützung von Freund*innen in dem überwiegend männlich geprägten Naturwissenschafts-Uni- Alltag durch. Die technischen und naturwissenschaftlichen Bereiche an der Hochschule sind bis heute in der Mehrzahl von Männern besetzt.

Während einer gemeinsamen Zugfahrt mit Angelika wird mir bewusst: das Thema Klimawandel war vor dreißig Jahren genau so aktuell wie heute. Meine Gedanken schweifen ab und ich frage mich, ob es Zusammenhänge von Klimawandel und der Unterrepräsentation von Frauen in den Naturwissenschaften gibt. Schließlich sind es in der Mehrzahl Männer, die an den Entscheidungshebeln sitzen.

Angelika erzählt mir, dass sie heute glücklich in Berlin lebt und in nur ein paar Schritten draußen in der Natur ist. Ich frage, ob ich Sie mal in Berlin besuchen kann, um weiteren Schwenkern vor allem aus der Studienzeit in Zittau zu lauschen. Wir tauschen Telefonnummern aus und wenige Wochen später kam dann Corona. Wir haben uns über Skype weiter ausgetauscht.

Alles begann im Jahr 1987. Angelika Heiden kämpfte zwischen rauchenden Öfen und saurem Regen über dem Riesengebirge auf ihre Weise für einen gesunden Planeten. Sie studierte Kraftwerkstechnik an der Ingenieurhochschule Zittau mit dem Ziel, regenerativen Energien als Alternative zu Kohleabbau und Kraftwerkstechnik auf die Spur zu gehen. In unserem Gespräch erzählt Angelika über Tschernobyl in den 80er Jahren und von vielen männlichen Kommilitonen, die nach dem Mauerfall in Westdeutschland als Kernkraftspezialisten mit Kusshand und guten Arbeitsverträgen eine langfristige Festanstellung bekamen. Zur gleichen Zeit lief die Braunkohleförderung für das Kraftwerk Hagenwerder im Tagebau Olbersdorf auf Hochtouren. Angelika blieb nach der Wende und auch nach ihrem Studium noch lange in Zittau und forschte weiter, um den regenerativen Energien als Alternative für den Kohleabbau voran zu bringen: Sie promovierte zum Thema Niedrigenergiehäuser.

Das Gefühl von „Es muss etwas passieren!“

Angelika wurde in Mecklenburg-Vorpommern geboren, bezeichnet sich selbst als DDR-Kind und schwärmt begeistert von Mathe und Physik zu Schulzeiten. Zu Studienzeiten setzte sie sich neben ihrem Anliegen für das Klima zusätzlich mit ihrer Überzeugung „das System funktioniert nicht“ in den Diskussionsrunden, die im kirchlichen Rahmen Ende der 80er Jahre in Zittau stattfanden, ein. Bei aktiven Gruppen in der Kulturfabrik Meda in Mittelherwigsdorf und in der Alten Bäckerei in Großhennersdorf wirkte sie mit so gut sie konnte. Kurz darauf gab es die DDR nicht mehr als ‚das System‘. Diese Veränderung nimmt sie wie einen Riss zwischen unterschiedlichen Welten wahr. Zu Wendezeiten hat sie ihren Alltag, als alleinerziehende Mutter und angestellte Doktorandin und so als eine von wenigen Frauen in der akademischen Wissenschaftswelt der Naturwissenschaft gerockt.

„In der DDR war ich es gewohnt, dass die Frauen arbeiten und ich habe eben in der Wissenschaft gearbeitet. Als das System zusammengebrochen ist, da ist auch ein Teil von meiner Weltanschauung weggebrochen und ich musste mir neue Ziele suchen, wie zum Beispiel die Forschung auf dem Gebiet der Nutzung alternativer Energiequellen.“

Quelle: http://www.gerryfoto.de/pixelpost/images/20090112203012_kraftwerk.jpg

Angelika erzählt: „Ich war 100% beschäftigt. Das Gefühl von ‚Es muss was passieren‘ hatte ich damals schon und es ist bis heute präsent geblieben. Ich war eine leidenschaftliche Naturwissenschaftlerin, das wusste ich ganz schnell. Heute würde ich sagen, ich habe damals ganz schön viel akzeptiert. In meiner Lehre arbeitete ich in Schwerin im Heizwerk und schon da bemerkte ich unter den Mitarbeitern diese Aufbruchsstimmung: So wie es war, würde es nicht mehr lange funktionieren. Wir haben es akzeptiert, dass wir nicht in den Westen konnten und haben unseren Alltag gelebt. Ich habe mich in die Wissenschaftswelt gestürzt. Mit einem klaren Vorhaben: Ich wollte etwas zum Klimaschutz beitragen.“

Damals war das Kraftwerk Hagenwerder noch in Betrieb und in Zittau wurde mit Kohle geheizt. Angelika erinnert sich während unseres Gesprächs an den sauren Regen, der durch die Abgase der Kohlekraftwerke im Osten und Westen in den 80ern im Riesen- und Isergebirge über Tschechien und Polen aber auch im Thüringer Wald und im Erzgebirge verursacht wurde. Viele Wälder sind eingegangen. Das hat die junge Klimakämpferin tief erschüttert: „Es hat mir das Herz gebrochen. Es war unheimlich, an einem toten Wald vorbei zu fahren. Dank Rauchgasentschwefelungsanlagen in den Kraftwerken gibt es heute in Deutschland keinen sauren Regen mehr. Aber die Wälder werden noch lange brauchen, um sich vollständig zu erholen. Das wussten wir damals schon.“

Während ich den naturwissenschaftlichen Fachworten folge, wird mir bewusst, dass es mich schon seit ich denken kann bewegt, dass das Thema Klimawandel in der Politik nicht zentral genug ist. Liegt das vielleicht daran, weil in der Politik auch zu wenig Frauen in den entsprechenden Positionen mitsprechen? Angelika führt weiter aus: „Jede*r Einzelne kann und muss etwas zum Klimaschutz beitragen, wenn wir noch lange auf diesem Planeten leben wollen. Jede*r kann auf den eigenen Fußabdruck achten. Dazu gehört neben weniger Flugreisen, Fahrgemeinschaften bilden und weniger Fleisch essen, auch dazu, den Heizwärmebedarf in unseren Haushalten zu beobachten.“

In den 90er Jahren brauchte es dringend neue Konzepte für gute Wärmedämmung und Heizungen, die regenerative Energiequellen nutzen. Als Angelika in den 90er Jahren zu diesem Thema als erste Frau in der Lausitz forschte, war ihr Sohn bereits im Kindergartenalter.

In der Lausitz gehört der Braunkohleabbau seit mehr als hundert Jahren zum Alltag der Bewohner*innen. Wie im Ruhrgebiet und im Mitteldeutschen Revier mussten ganze Dörfer der Braunkohle weichen. In vielen weiteren Ländern der Welt ist dies eine Realität von oft verwurzelten Gemeinschaften. In unserem Gespräch wird immer deutlicher: „Wer die Rechnung zahlt, ist das Weltklima und die Bewohner*innen der Lausitz“. Welche Rechnungen musste Angelika als Pionierin mit ihrer Promotion zum Thema regenerative Energien bezahlen? Als ich sie darauf anspreche kommt sie zuerst in eine nachdenkliche Stimmung und dann erzählt sie, wie tief sie in ihrer Alltagsroutine als Frau in der Naturwissenschaftswelt und alleinerziehende Mutter steckte und gleichzeitig mit dem System, das am Zusammenbrechen war, kämpfte.

Quelle: MaGüLi Feminismus

Eine Region im Wandel, die Welt im Wandel, der Klimawandel stets präsent

Eines wird deutlich: Die Doktorarbeit war Angelikas Anker. Mitten in dem ganzen gesellschaftlichen Gewusel blieb nicht viel Zeit und Kopf für Genderfragen. Mit Kind hatte Angelika kaum eine freie Minute für sich. Eins war ihr klar, sie möchte nicht zu Hause bleiben. Im Gespräch betont sie, dass sie mehr im Leben wollte und es schon immer geliebt hat, frei entscheiden zu können. Damit sie sich auf das Studium konzentrieren kann, hatte sie zusätzliche Unterstützung von einer guten Freundin. Nach dem Studium war Angelika als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Dort hat sie jede freie Minute in der Bibliothek verbracht, betätigte sich in der Arbeitsgruppe „Stadtsanierung“ und vertiefte das Thema regenerative Energien. Zwei Jahre später konnte sie sich mit einem Promotionsstipendium der Deutschen Stiftung Umwelt vollständig dem Thema Niedrigenergiehaus und Solarthermie widmen.

In der Energiebranche sind Frauen immer noch unterrepräsentiert, in der Umweltbewegung in der deutlichen Mehrzahl

Angelika hat sich nach ihrem Studium als Energieeffizienzberaterin selbstständig gemacht. Sie erinnert sich noch sehr genau an die Herausforderung, als einzige Frau in einer Projektgruppe für eine Energiestudie, mit ihrem Dr. Titel ernstgenommen zu werden. Neben dem Berufsalltag war Angelika oft mit Situationen konfrontiert in denen sie ihr Können als Frau in der Energiebranche, unter Beweis stellen musste. Angelika ist und bleibt eine mutige Pionierin, die ihren Weg gegangen ist, weil sie an den Klimaschutz glaubt. Und der ist heute mehr aktuell denn je!

Zum Abschluss unseres Skype-Gesprächs stellen wir ein gemeinsames Anliegen fest: Es ist an der Zeit, dass mehr und mehr Personen, die in der Mehrzahl nicht männlicher Geschlechter und mehr diverser Nationalitäten sind, die in den Naturwissenschaften und bei Klimaschutz wichtigen Entscheidungen mit eingebunden werden, sichtbarer und anerkannt werden für das was sie bewirken. Was braucht es, dass naturwissenschaftliche und technische Berufsfelder für alle Geschlechter interessanter und zugänglicher werden? Ein feministischer Klimaschutz in dem die Hierarchien zwischen den Geschlechtern aufgehoben werden, so wie zwischen Menschen und Umwelt vielleicht? Vorbilder finden wir hier in der stets anwachsenden Ökofeminismus Bewegung, wie zum Beispiel Vandana Shiva. Im Ökofeminismus werden Zusammenhänge der Öko-Krise mit patriarchalen Strukturen in denen Frauen nur bestimmten Aufgaben zugeteilt sind, ernst genommen.

Angelika hat einen essenziellen Beitrag mit ihrer Forschung für Niedrigenergiehäuser geleistet und in ihrem beruflichen Alltag ihren Mut und ihre Überzeugung bewiesen. Weiter machen, kritisieren und nicht schweigen – in Verbundenheit über den ganzen Erdglobus. Angelika und ich sind uns einig: Auch wenn es für Frauen* heute immer noch nicht ganz ausgeglichen ist was Pay Gap und die Anerkennung in naturwissenschaftlichen Berufen anbelangt – wir sollten nicht aufgeben, denn vieles ist schon erreicht. Ich schließe den Artikel mit dem Wunsch der französischen Ökofeministin, die den einzigen Lehrstuhl zur „Philosophie der Ökologie“ in Frankreich inne hat ab: Émilie Hache wünscht sich mehr Streit, damit es bei ökofeministischen Veranstaltungen um mehr als nur veganen Kuchen backen geht.

Liviana Bath…

… ist mit 20 Jahren Liviana Bath mit einem Segelschiff per Anhalter über den Atlantik gesegelt und hat eine zweijährige Reise mit dem Fahrrad in Lateinamerika drangehängt. Klimaschutz und Feminismus sind ihr persönliches Anliegen. Heute arbeitet die Sozial- und Kulturanthropologin mit dem Schwerpunkt Genderstudies als Referentin der Machtkritischen Bildungsarbeit. Im Dreiländereck leitet Liviana als pädagogische Koordinatorin die Fortbildungsreihe „Gruppen und Projekte diversitätsbewusst leiten“ bei der Hillerschen Villa e.V.

Angelika Heiden setzte sich als erste Doktorandin an der Ingenieurhochschule in Zittau zum Thema regenerative Energien ein und als Frau durch

Angelikas

...
Image